Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Überprüfungsantrag nach § 44 SGB 10. Überprüfungspflicht und Überprüfungsmaßstab. Anforderungen an den Überprüfungsantrag. Amtsermittlungspflicht
Leitsatz (amtlich)
1. Der Prüfungsmaßstab ist maßgeblich von den beiden Tatbestandsalternativen des § 44 Abs 1 S 1 SGB X abhängig.
2. Bei der 1. Alternative handelt es sich um eine rein rechtliche Überprüfung der Richtigkeit der bestandskräftigen Entscheidung, bei der es auf den Vortrag neuer Tatsachen nicht ankommt und die von Amts wegen zu erfolgen hat.
3. Bei der 2. Alternative kommt es dagegen auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel im Rahmen eines abgestuften Verfahrens an; es sind nur solche neuen Tatsachen beachtlich, die bereits im Verwaltungs- bzw Widerspruchsverfahren vorgetragen oder bekannt geworden sind.
4. Eine Prüfpflicht nach § 44 Abs 1 S 1 SGB X wird für beide Alternativen aber erst bei einem hinreichend objektiv konkretisierbaren Antrag ausgelöst.
5. Dazu muss sich der Verwaltung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens entweder aus dem Antrag selbst - ggf nach Auslegung - oder aufgrund konkreter Nachfrage objektiv erschließen, aus welchem Grund - Rechtsfehler und/oder falsche Sachverhaltsgrundlage - nach Auffassung des Leistungsberechtigten eine Überprüfung erfolgen soll.
Tenor
1. Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 13. Februar 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten des Klägers sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung der Überprüfung zweier Erstattungsbescheide für Juni bis August 2015 und September bis November 2015.
1. Der 1969 geborene Kläger bezog seit September 2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites (SGB II) von dem Beklagten.
Mit Bescheid vom 2. Februar 2015 waren dem Kläger Grundsicherungsleistungen für März bis August 2015 ohne Anrechnung von Einkommen in Höhe von 876,49 Euro monatlich vorläufig bewilligt worden. Die vorläufige Bewilligung begründete der Beklagte mit einer noch ausstehenden Entscheidung über eine vom Kläger beantragte Erwerbsminderungsrente.
Bei der Leistungsberechnung blieben mehrere Zahlungen seines früheren Arbeitgebers (B), Zins- und Dividendengutschriften sowie Bareinzahlungen Dritter auf das Girokonto des Klägers unberücksichtigt. Unter anderem erhielt der Kläger laut einer Entgeltabrechnung vom 23. April 2015 von der B für April 2015 eine Gratifikation (Jubiläumsprämie) in Höhe von 1.000 Euro (Brutto wie Netto) und am 26. Mai 2015 eine einmalige Zuwendung (Bareinzahlung) eines nicht benannten Dritten in Höhe von 800 Euro. Auf Aufforderung des Beklagten vom 27. Mai 2015 und 16. Juni 2015 macht der Kläger unter dem 9. und 21. Juni 2015 ergänzende Angaben zu seinen Vermögensverhältnissen, unter anderem gab er zur Herkunft der Bareinzahlungen seit 1. September 2014 an, das Geld komme von Privatpersonen und dienen einzig und allein dazu, seine etwaige Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden.
In einer mit „Aktenvermerk des Bearbeiters“ zur weiteren Vorgehensweise vom 29. Juni 2015 verfügte der Beklagte folgende weitere Vorgehensweise:
„[...]
1.) Anschreiben an LE über weitere vorzulegende Unterlagen.
2.) Erstattungsanspruch an Aachener Münchener wegen BU Rente
3.) An Leistungsstelle abgeben zur Anrechnung des auf sechs Monate aufzuteilenden EK aus 4/15 in Höhe von 166,67 Euro für 8/15
4.) Anrechnung Bareinzahlungen:
a) im Januar 2015 i.H.v. 250,00 Euro
b) im Mai 2015 i.H.v. 800,00 Euro
5.) Anrechnung der Zinsen auf Bausparverträge in Höhe v. 17,95 Euro in 12/14
6) Anrechnung des ES aus Zahlungen der B durch 9049
a) einmalige Zahlung als sonstiges EK im Nov. 14 in Höhe von 135,00 Euro
b) einmalige Zahlung als sonstiges EK im April 15 in Höhe von 1000,00 Euro aufgeteilt auf 6 Monate in Höhe von 166,67 Euro. 4-7/15 durch 9049. Ab 8/15 siehe Punkt 3.)
c) Anrechnung EK im November 14 aufgeteilt auf 6 Monate
Für a-c getrennte Bescheide erstellen.
7.) Anrechnung Bareinzahlung im September 14 bis Februar 15 i.H.v. 293,33 Euro (1.760,00 Euro/6)
[...] “
Die Verfügungen zu 1.) und zu 2.) führte der Beklagte umgehend aus. In Umsetzung der Verfügung zu 3.) änderte er sodann mit Bescheid vom 1. Juli 2015 seinen Bescheid vom 2. Februar für August 2015 unter Anrechnung eines Sechstels der Gratifikation (166,67 Euro) in Höhe von 136,67 Euro ab. Der neue Leistungsanspruch wurde auf 739,82 Euro festgesetzt. Die Entscheidung ergehe weiterhin vorläufig.
Gleichzeitig hörte der Beklagte in Ausführung der Verfügung zu 5.b) den Kläger mit einem gesonderten Schreiben zu einer beabsichtigten Anrechnung der Gratifikation auch für die Vergangenheit (Mai bis Juli 2015) an. Der Kläger erklärte dazu unter dem 8. Juli 2015, der aufgeführte Sachverhalt treffe zu. Von der Überweisung habe er erst erfahren, als der Betrag bereits auf seinem Konto gewesen sei und habe sich nichts dabei gedacht. Aber da er diesen Fehler begangen habe, müsse er auch dafü...