Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Pflicht zur Beantragung der vorzeitigen Altersrente. keine Unbilligkeit. Verfassungsmäßigkeit. Europarechtskonformität. Fristsetzung. Antrag durch Grundsicherungsträger kein Verwaltungsakt. keine Antragsrücknahme ohne Zustimmung des Grundsicherungsträgers
Leitsatz (amtlich)
1. Gegen die Regelung des § 12a SGB II bestehen weder verfassungs- noch europarechtliche Bedenken.
2. Ob eine Erwerbstätigkeit iS von § 4 UnbilligkeitsV in nächster Zukunft bevorsteht, ist anhand einer Prognose zu bestimmen. Dabei können spätere Entwicklungen eine Prognose weder bestätigen noch widerlegen.
3. Dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist zur Antragstellung eine angemessene Frist zu setzen. Deren Länge bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls und darf eine Woche nicht unterschreiten. Eine zu kurze Frist macht die Aufforderung zur Antragstellung nicht unwirksam. Die ersatzweise Antragstellung durch den Grundsicherungsträger gemäß § 5 Abs 3 S 1 SGB II würde aber erst nach Ablauf der angemessenen Frist möglich.
4. Die Antragstellung durch den Grundsicherungsträger gemäß § 5 Abs 3 S 1 SGB II ist kein Verwaltungsakt.
5. Stellt der erwerbsfähige Hilfebedürftige nach einer rechtmäßigen Aufforderung durch den Grundsicherungsträger einen Rentenantrag, kann er ohne dessen Zustimmung diesen Antrag nicht zurücknehmen.
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen und der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung wird abgelehnt.
Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten sind in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Bescheid, der zur Rentenantragstellung auffordert, aufhebt, und die Vollzugsfolgenbeseitigung streitig.
Die am ...1952 geborene Antragstellerin stand seit längerem beim Antragsgegner im Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), die dieser zuletzt auf einen Fortzahlungsantrag vom 20. Oktober 2015 bewilligte (Bescheid vom 24. Oktober 2015). Sie verfügt über Einkommen i.H.v. 254,19 EUR als Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Bereits seit Juni 2014 standen die Beteiligten im Austausch über die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente (vgl. u.a. persönliche Vorsprachen vom 19. Juni 2014, 13. Januar und 28. April 2015; telefonische Kontakte am 24. Juni und 7. Juli 2015). Am 27. August 2015 erörterten sie den Abschluss einer neuen Eingliederungsvereinbarung. Diese Vereinbarung, die eine Laufzeit bis 26. November 2015 haben und die Antragstellerin verpflichten sollte, bis dahin eine aktuelle Rentenauskunft vorzulegen, unterzeichnete sie nicht. Vielmehr äußerte sie mit Schreiben vom 13. September 2015 Änderungswünsche. Danach solle die Vereinbarung bis 31. März 2016 laufen und der Antragsgegner solle eine 1-Euro-Maßnahme für den "F. L." der Heimatstadt bewilligen. Sie selbst wolle Bewerbungen für 1-Euro-Maßnahmen, Bürgerarbeit und den Ersten Arbeitsmarkt unternehmen. Sie führte an, dass die Änderungen erforderlich seien, da sie eine Bewerbung im "F. L." bereits abgegeben habe. Die Eingliederungsvereinbarung kam nicht zustande.
Am 1. Oktober 2015 erteilte die Antragstellerin bei einer persönlichen Vorsprache dem Antragsgegner Vollmacht zur Einholung von Auskünften zu Erfordernissen, Bearbeitungsstand und Rentenhöhe. Am Folgetag meldete der Antragsgegner bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (DRV) einen Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff. Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) wegen "Altersrente ab 10/2015" an. Er erkundigte sich, ob die Antragstellerin die Voraussetzungen für eine Rente wegen Alters erfülle und wie hoch die Rente bei vorzeitiger Inanspruchnahme ab 1. Oktober 2015 sei. Hierauf teilte die DRV am 13. Oktober 2015 mit, dass die Rente unter Berücksichtigung eines Abschlags wegen vorzeitiger Inanspruchnahme 528,61 EUR monatlich betrage und mit welchen Abzügen zu rechnen sei. Daraufhin holte der Antragsgegner noch Auskünfte zur Höhe des zu erwartenden Wohngelds ein.
Mit Bescheid vom 30. Oktober 2015, zugestellt am 3. November 2015, forderte der Antragsgegner die Antragstellerin auf, bis zum 13. November 2015 einen Antrag auf Altersrente bei ihrem zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen. Darin kündigte er ferner an, selbst als zuständiger Leistungsträger ersatzweise für sie den Rentenantrag zu stellen, sofern der Nachweis über die Rentenantragstellung bis zum 20. November 2015 nicht erbracht werde. Wegen des weiteren Inhalts des Bescheids wird auf S. 1892 f. der Verwaltungsakte verwiesen.
Am 12. November 2015 stellte die Antragstellerin bei der DRV einen Rentenantrag.
Am 20. November 2015 erhob sie Widerspruch gegen den Aufforderungsbescheid vom 30. Oktober 2015. Zur Begründung führte sie aus, sie sei im Bewerbungsverfahren für sozialversicherungspflichtige Teil- u...