Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen. Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente. Ermessensausübung. unvollständige Sachverhaltsermittlung. veraltete Rentenauskunft. fehlende Begründung einer negativen Prognose für die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt
Leitsatz (amtlich)
Die Aufforderung des Leistungsträgers gem § 12a SGB 2, vorzeitig eine geminderte Altersrente in Anspruch zu nehmen, ist ermessensfehlerhaft, wenn der Entscheidung ein unvollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde gelegt ist. Dies ist der Fall, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine in der Vergangenheit eingeholte Rentenauskunft nicht mehr aktuell ist. Fehlerhaft ist es auch, wenn im Bescheid die Tatsachen, auf die der Leistungsträger seine negative Prognose für die Integrationsaussichten auf dem Arbeitsmarkt stützt, nicht genannt werden.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 31. März 2015 wird aufgehoben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 6. März 2015 angeordnet.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten für das erst- und das zweitinstanzliche Verfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Aufforderung des Antrags- und Beschwerdegegners, vorzeitig einen Altersrentenantrag zu stellen.
Die am ... 1951 geborene Antragstellerin bezieht vom Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Zuletzt bewilligte der Antragsgegner vorläufige Leistungen in Höhe von 769,00 EUR monatlich mit Bescheid vom 6. Februar 2015 für die Monate Februar bis April 2015 und mit Bescheid vom 7. April 2015 für den Bewilligungszeitraum von Mai bis Oktober 2015. Dabei berücksichtigte er die Regelleistung in Höhe von 399,00 EUR sowie KdU in Höhe von 370,00 EUR.
Nach der Rentenauskunft der D. R. M. (im Weiteren: DRV) vom 18. Februar 2013 werde die Regelaltersrente, die die Antragstellerin am 17. Juli 2016 erreiche, monatlich 595,70 EUR betragen. Nach Abzug der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge von insgesamt 61,05 EUR würden voraussichtlich 534,65 EUR netto gezahlt. Ab März 2014 könne sie Altersrente wegen Arbeitslosigkeit beziehen, die mit einer Minderung von 7,2 % verbunden sei. Seit März 2011 sei der Bezug einer Altersrente für Frauen mit einem Rentenabschlag von 18 % möglich. Im Versicherungsverlauf der Antragstellerin sei die Zeit von Januar bis Dezember 2011 ungeklärt.
Mit Bescheid vom 20. November 2013 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin erstmalig auf, beim zuständigen Rentenversicherungsträger einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen. Dagegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein, sprach aber am 31. März 2014 bei der DRV vor und beantragte die Gewährung einer Altersrente für Frauen ab dem 1. April 2014. Mit Bescheid vom 18. August 2014 bewilligte die DRV antragsgemäß die Altersrente für Frauen ab April 2014. Die monatliche Rente betrage ab Oktober 2014 brutto 657,33 EUR und nach Abzug des Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrags 589,95 EUR. Eine Nachzahlung für die Monate April bis September 2014 erfolge noch nicht, weil zunächst Erstattungsansprüche anderer Sozialleistungsträger zu klären seien. Mit einer Erklärung vom 28. August 2014 über die "Nichtinanspruchnahme" der Altersrente wandte sich die Antragstellerin an die DRV, was diese als Antragsrücknahme wertete, die rechtzeitig vor Eintritt der Bindungswirkung des Rentenbescheids abgegeben worden sei. Die DRV teilte der Antragstellerin mit Schreiben vom 16. Januar 2015 mit, aufgrund der Rücknahme des Rentenantrags entfalte der Bescheid vom 18. August 2014 keine Rechtswirkungen, und bat um dessen Rücksendung.
Mit Bescheid vom 5. November 2014 hob der Antragsgegner auf den Widerspruch der Antragstellerin seinen Aufforderungsbescheid vom 20. November 2013 in Kenntnis des Rentenbescheids vom 18. August 2014 und der Rücknahme des Rentenantrags auf. In einem Begleitschreiben vom selben Tag an die Antragstellerin führte er u.a. aus, es sei möglich, dass eine weitere Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragstellung ergehe.
Mit Bescheid vom 6. März 2015 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin erneut auf, die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit gemäß § 12a SGB II zu beantragen. Er wies auf seine Berechtigung zur Antragstellung anstelle der Antragstellerin hin, wenn diese der Aufforderung nicht bis zum 2. April 2015 nachkomme. Die Antragstellerin habe das 63. Lebensjahr bereits vollendet und sei daher gemäß § 12a Satz 1 SGB II verpflichtet, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Die Tatbestände der Unbilligkeitsverordnung träfen auf sie nicht zu. Sonstige Unbilligkeitsgesichtspunkte seien nicht ersichtlich. Ihr sei es bislang nicht gelungen, sich auf dem ersten Arbeitsmarkt zu ...