Entscheidungsstichwort (Thema)
einstweiliger Rechtsschutz. Anordnungsgrund. Asylbewerberleistung. Verfassungsmäßigkeit. Sozialhilfe nach längerer Aufenthaltsdauer. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Herabsetzung einer Leistungsgewährung auf einen Betrag nach § 3 AsylbLG liegt der für eine einstweilige Anordnung erforderliche Anordnungsgrund regelmäßig vor. Das Vorliegen einer drohenden besonderen Härte ist nicht erforderlich.
2. Die Aufhebung eines Bescheides, mit dem zeitlich unbefristet Leistungen nach § 2 Abs 1 AsylbLG bewilligt worden sind, richtet sich nach § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 48 Abs 1 SGB 10.
3. Eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung des Aufenthalts bei Passlosigkeit liegt nicht vor, wenn die Ausweispapiere bei der Einreise nicht mit der Absicht vernichtet wurden, den Aufenthalt zu verlängern (hier: von Schleusern gegen gefälschte Papiere getauscht).
4. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten ist nicht schon in der bloßen Nichtausreise wegen der Passlosigkeit zu sehen. Erforderlich sind vielmehr weitere Umstände, die eine finanzielle Sanktionierung erlauben.
5. Zu den Anforderungen an eine konkrete Darlegung von Verstößen gegen die Mitwirkungspflicht an der Beschaffung von Ausweispapieren.
Orientierungssatz
1. Durch die Geldleistungen nach § 3 AsylbLG sind zwar die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben gewährleistet (vgl BVerwG vom 29.9.1998 - 5 B 82/97 = FEVS 49, 97), aber nach 36 Monaten Aufenthalt sollen alle Asylbewerber Leistungen in der Höhe erhalten, die dem soziokulturellen Existenzminimum entsprechen.
2. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten iS des § 2 Abs 1 AsylbLG verlangt ein subjektives, vorwerfbares Moment des bewussten Missbrauchs von Verfahrensregelungen, um die Ausreise zu verzögern.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 12. Dezember 2005 wird aufgehoben.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller unter Anrechnung erbrachter Leistungen ab dem 23. November 2005 vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz in entsprechender Anwendung des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch zu bewilligen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung höherer Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Umstritten ist insbesondere, ob der Antragsteller die Dauer des Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat.
Der am 1982 geborene Antragsteller ist palästinensischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste am 13. November 2001 über I, per Flugzeug in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 22. November 2001 die Gewährung von Asyl nach dem Asylverfahrensgesetz (AsylVfG). Im Rahmen der am 29. November 2001 durchgeführten Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge gab der Antragsteller an, seinen palästinensischen Personalausweis habe ihm ein Schleuser in Jordanien abgenommen. Dieser sei benötigt worden, um einen Reisepass zu verschaffen. Mit Hilfe des Schleusers sei er über Jordanien und Syrien in die Türkei gelangt. Nach der Ankunft auf dem deutschen Flughafen habe ihm der Schleuser den gefälschten Reisepass wieder abgenommen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom 25. Februar 2002 den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte ferner fest, dass Abschiebungshindernisse nicht vorlägen. Dagegen erhob der Antragsteller Klage beim Verwaltungsgericht Magdeburg. Die Klage wurde mit rechtskräftigem Urteil vom 27. Januar 2004 abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt wies mit Beschluss vom 25. Mai 2005 den Antrag auf Zulassung der Berufung zurück. Der Beschluss wurde am 2. Juni 2005 rechtskräftig.
Der Antragsteller bezog zunächst Leistungen nach § 3 AsylbLG und erhielt mit Bescheid vom 15. November 2004 ab dem 1. Dezember 2004 Leistungen gemäß § 2 AsylbLG entsprechend den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) bzw. des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII). Ab Januar 2005 wurden ihm vom Antragsgegner nach Abzug der Kosten für Miete und Unterkunft monatlich 281,35 EUR ausbezahlt (Bescheid vom 23. Dezember 2004). Mit Schreiben vom 13. Juni 2005 informierte das Bundesamt für Integration und Flüchtlinge den Antragsgegner über die Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils seit dem 2. Juni 2005. Der Antragsgegner gewährte dem Antragsteller daraufhin mit Bescheid vom 28. Juni 2005 für die Zeit ab 1. Juli 2005 nur noch Leistungen nach § 3 AsylbLG. Nach Abzug der Kosten für Miete und Unterkunft wurden dem Antragsteller noch 194,29 EUR ausbezahlt. Gleichzeitig wurde eine Summe von 87,06 EUR für den Monat Juli 2005 zurückgefordert, da für diesen Zeitraum bereits der ursprüngliche Zahlbetrag überwiesen war. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus, der Asylantrag sei am 2. Ju...