Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch des Familienangehörigen eines aufenthaltsberechtigten Unionsbürgers auf Leistungen des SGB 2 aus abgeleitetem Recht
Orientierungssatz
1. Die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 erfordert bei Unionsbürgern regelmäßig eine Prüfung des Grundes ihrer Aufenthaltsberechtigung. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" (BSG Urteil vom 30. 1. 2013, B 4 AS 54/12 R).
2. Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus § 3 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 FreizügG hat der Familienangehörige eines der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG genannten Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer in der BRD aufhalten, wenn er vom Freizügigkeitsberechtigten eine regelmäßige Unterstützung in einem Umfang erfährt, mit dem er zumindest einen Teil seines Unterhalts decken kann.
3. Ein Unterhaltsanspruch muss nicht bestehen. Erforderlich ist jedoch der Nachweis eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 Sätze 1-2, § 8 Abs. 1-2, § 21 Abs. 3, § 41 Abs. 1 S. 1, Abs. 3; FreizügG/EU § 2 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nrn. 1, 1a, 6, Abs. 3; FreizügG/EU § 3 Abs. 1; FreizügG/EU § 3 Abs. 2 Nr. 2, § 4 Abs. 1, § 11 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 25 Abs. 4; VO (EU) Nr. 492/2011 Art. 10; GG Art. 6 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2 Sätze 2, 4, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 172 Abs. 1, 3 Nr. 1; ZPO § 920 Abs. 2
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 21. Dezember 2017 wird aufgehoben und der Antragsgegner im Weg der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für den Zeitraum vom 6. November 2017 bis zum 31. Juli 2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 470,00 EUR für die Antragstellerin und 211,67 EUR für den Antragsteller für November 2017, 564,00 EUR für die Antragstellerin und 254,00 EUR für den Antragsteller für Dezember 2017 sowie monatlich 571,00 EUR für die Antragstellerin und 257,00 EUR für den Antragsteller für Januar bis Juli 2018 zu zahlen.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragsteller und Beschwerdeführer (im Weiteren: Antragsteller) begehren von dem Antrags- und Beschwerdegegner (im Weiteren: Antragsgegner) die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige. Die 1978 geborene Antragstellerin reiste mit ihrem am ... 2007 geborenen Sohn, dem Antragsteller, nach ihren Angaben am 11. Mai 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Antragsteller fanden Unterkunft in Annaburg bei dem 21-jährigen V. P., einem Sohn der Antragstellerin. V. P. hält sich seit Mai 2016 in Deutschland auf, er arbeitet seit August 2016 als Metallbauer für eine Zeitarbeitsgesellschaft und verdient monatlich ca. 1.050 bis 1.200 EUR netto. Seit August 2017 besucht der Antragsteller in A. die Grundschule.
Am 8. August 2017 stellten die Antragsteller beim Antragsgegner einen SGB II-Leistungsantrag. Die Antragstellerin gab an, sie stamme aus der Stadt V. in Bulgarien, wo ihr Ehemann, von dem sie getrennt lebe und der eine bulgarische Erwerbsunfähigkeitsrente beziehe, weiterhin wohne. Sie habe in Bulgarien die Schule mit dem Hauptschulabschluss nach der 8. Klasse verlassen. Sie sei vermögenslos und werde von ihrem Sohn V. unterstützt.
Mit Bescheid vom 5. Oktober 2017 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag ab. Die Antragsteller seien gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von SGB II-Leistungen ausgeschlossen, da sie über ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche verfügten. Dagegen legten die Antragsteller fristgerecht Widerspruch ein und führten aus, sie seien nicht allein zur Arbeitsuche in Deutschland, sondern auch um mit den Kindern, der Mutter und den Geschwistern der Antragstellerin zusammenzuleben. Der Antragsteller solle mit seinen Geschwistern und den weiteren Familienangehörigen aufwachsen.
Am 1. November 2017 haben die Antragsteller gemeinsam mit V. P. und der Mutter der Antragstellerin T. L., die vom Antragsgegner SGB II-Leistungen bezieht, eine 80 m² große Mietwohnung in A. bezogen, für die eine monatliche Bruttokaltmiete von 520 EUR zu zahlen ist. Hinzu kommen monatliche Vorauszahlungen von 100 EUR an den Gasversorger. Außer dem monatlichen Kindergeld für den Antragsteller von 162 EUR (bis Dezember 2017) bzw. 194 EUR (ab Januar 2018) haben die Antragsteller kein Einkommen.
Am 6. November 2017 haben die Antragsteller bei dem Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Ihnen drohe aufgrund der Unterkunftsgewährung durch V. P. aktuell zwar keine Obdachlosigkeit, sie seien aber dringend auf SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts angewiesen. Sie befänden sich in einer wirtschaftlichen Notlage. Als freizügigkeitsberechtigt...