Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung. Verfahrensfehler. Bestandskraft von Bescheiden. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Vorverfahren. Unklarheiten im Hinblick auf den Umfang der Widerspruchseinlegung. Auslegung von Erklärungen. Ermittlungen durch die Behörde. Meistbegünstigungsprinzip. nicht eindeutige Erklärung einer rechtskundigen Person
Leitsatz (amtlich)
1. Ist unklar, ob bzw in welchem Umfang Widerspruch eingelegt worden ist, hat die Behörde dies durch Auslegung zu ermitteln und bei Unklarheiten, die nicht im Wege der Auslegung beseitigt werden können, durch Rückfragen zu klären, ob ein förmlicher Widerspruch erhoben werden sollte und wogegen sich dieser richtet. Im Zweifel ist jedoch davon auszugehen, dass mit dem Widerspruch alle Verfügungssätze angegriffen werden sollen.
2. Dabei erfolgt die Auslegung unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips unabhängig vom Wortlaut unter Berücksichtigung des wirklichen Willens, damit das Begehren möglichst weitgehend zum Tragen kommt.
3. Es kann bei einem Rechtsanwalt oder einem anderen qualifizierten Prozessbevollmächtigten in der Regel davon ausgegangen werden, dass dieser das Gewollte richtig wiedergibt. Dies kann aber nur dann gelten, falls die Erklärung eindeutig ist. Ist dies nicht der Fall, ist der wirkliche Wille im Wege der Auslegung nach den allgemeinen Grundsätzen zu ermitteln.
Normenkette
SGG § 144 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1-2, Abs. 2 Nrn. 1-3, §§ 77, 78 Abs. 1, §§ 83-84, 95; SGB II §§ 11, 11a; BGB § 133
Tenor
Die Nichtzulassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Der Beschwerdeführer hat dem Beschwerdegegner die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Der Beklagte und Beschwerdeführer (im Folgenden: Beschwerdeführer) begehrt die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Halle und die Durchführung des Berufungsverfahrens.
Der Kläger und Beschwerdegegner (im Folgenden: Beschwerdegegner) wendet sich mit seiner Klage gegen eine Erstattungsforderung des Beschwerdeführers.
Dieser bezog zusammen mit seiner Ehefrau laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes - so auch für die Monate Oktober 2013 bis Januar 2014. Der Beschwerdegegner erzielte Einkommen aus Erwerbstätigkeit, während seine Ehefrau nicht erwerbstätig war. Der Beschwerdeführer forderte den Beschwerdegegner deshalb mit Schreiben vom 15. Mai 2013 auf, von seiner bisherigen Lohnsteuerklasse IV in die Lohnsteuerklasse III zu wechseln. Dieser Aufforderung kam der Beschwerdegegner nicht nach.
Nachdem der Beschwerdeführer unter anderem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Monate Oktober 2013 bis Januar 2014 vorläufig bewilligt hatte, setzte er diese mit drei Bescheiden vom 7. April 2014 (Oktober und November 2013, Dezember 2013 und Januar 2014) endgültig fest, wobei er für Januar 2014 keinen Leistungsanspruch ermittelte. Im Rahmen der Anspruchsberechnungen berücksichtigte er jeweils fiktives Einkommen aufgrund eines unterlassenen Wechsels der Lohnsteuerklasse.
Mit einem weiteren Bescheid vom selben Tag forderte der Beschwerdeführer vom Beschwerdegegner für diesen Zeitraum insgesamt 194,78 EUR zurück.
Hiergegen wandte sich der Beschwerdegegner mit anwaltlichem Schreiben vom 8. Mai 2014. Dieses hat folgenden Wortlaut:
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"Leistungsangelegenheit K. P., [ ...] |
Änderungsbescheid vom 7. April 2014 |
Leistungszeitraum: 01.10.2013 - 31.01.2014 |
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[ ...] |
Namens und in Vollmacht meines Mandanten wird gegen den Bescheid vom 07.04.2014 Widerspruch eingelegt." (Bd. VIII, Blatt 1845 VA).
Handschriftlich wurde darauf der Vermerk Blatt 1755 angebracht. Damit wird auf den hier streitigen Erstattungsbescheid vom 7. April 2014 Bezug genommen.
Daraufhin erließ der Beschwerdeführer ohne weitere Ermittlungen den hier streitigen Widerspruchsbescheid vom 3. November 2014 im Hinblick auf den Erstattungsbescheid vom 7. April 2014. Dieser sei nicht zu beanstanden, weil die endgültigen Festsetzungen, auf deren Inhalt Bezug genommen wurde, nicht zu beanstanden seien.
Hiergegen hat der Beschwerdegegner am 5. Dezember 2014 Klage beim Sozialgericht (SG) Halle erhoben.
Der Beschwerdeführer hat im Termin zur mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten, dass die endgültigen Festsetzungen vom 7. April 2014 gegenüber dem Beschwerdegegner bestandskräftig geworden seien, weshalb die Erstattungsforderung nicht mehr geändert werden könne. In diesem Termin hat der Beschwerdegegner beantragt, den Bescheid vom 7. April 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2014 dahingehend abzuändern, dass im Zeitraum Oktober 2013 bis Januar 2014 lediglich 187,13 EUR monatlich als sonstige Einnahmen angerechnet werden.
Das SG hat der Klage mit Urteil vom 29. Juni 2018 stattgegeben und den Beschwerdeführer antragsgemäß verpflichtet, lediglich ein geringeres Einkommen in Höhe von 187,93 Euro monatlich anzurechn...