Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Freizügigkeitsrecht. Arbeitnehmereigenschaft. geringfügige Beschäftigung

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Prüfung der Voraussetzungen der Arbeitnehmereigenschaft iS von § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) ist eine Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Dabei sind regelmäßig auch geringfügige Beschäftigungen bzw sog Minijobs als "tatsächliche und echte" Arbeitsverhältnisse im Sinne des Freizügigkeitsrechts zu qualifizieren. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Anschluss an EuGH vom 4.2.2010 - C-14/09 - Genc = Slg 2010, I-931), der sich der Senat anschließt, reicht eine Arbeitsleistung von 5,5 Stunden wöchentlich und ein Verdienst von etwa 175 € monatlich aus, um die Arbeitnehmereigenschaft anzunehmen.

 

Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 23. März 2016 wird aufgehoben und der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig SGB II-Leistungen für die Zeit von Dezember 2015 bis April 2016 in einer monatlichen Höhe von 1.400 EUR zu zahlen.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen für beide Rechtszüge zu tragen.

Den Antragstellerinnen wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt T. bewilligt.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerinnen und Beschwerdeführerinnen (im Folgenden: Antragstellerinnen) begehren im Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtschutzes Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit von Dezember 2015 bis April 2016.

Die ... geborene Antragstellerin zu 1 ist ungarische Staatsangehörige. Sie reiste nach ihren Angaben nach der Trennung von ihrem bisherigen Partner im Juli 2015 mit ihren drei Töchtern, der am ... geborenen Antragstellerin zu 2, der am ... geborenen Antragstellerin zu 3 und der am ... geborenen Antragstellerin zu 4 in die BRD ein. Dort hielten sich die Antragstellerinnen zunächst bei der in H. lebenden Schwester der Antragstellerin zu 1 auf. Die Antragstellerin zu 1 beabsichtigte die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bei der Firma U. GmbH in H. Ein Arbeitsverhältnis kam nicht zustande. Am 22. Juli 2015 schloss die Antragstellerin zu 1 einen Mietvertrag für eine 110 m² große Wohnung in der ... in S. (Orteilsteil R.). Für die Wohnung fällt eine monatliche Bruttokaltmiete iHv 470 EUR an; Heizkostenvorauszahlungen sind in Höhe von 90 EUR zu leisten.

Die Antragstellerinnen zu 2 und 3 besuchen seit dem 19. August 2015 die erste Klasse der Pestalozzi Grundschule in B. Seit dem 1. November 2015 ist die Antragstellerin zu 1 ausweislich des vorgelegten Arbeitsvertrages und den Gehaltsabrechnungen für November bis April 2016 als Aushilfskraft in der Fladenbrotbäckerei D. U.G. fünf Stunden wöchentlich bzw. 22 Stunden monatlich als Putzhilfe zu einem Stundenlohn von 9 EUR beschäftigt. Der Festlohn beträgt 200 EUR brutto. Nach Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen iHv 7,40 EUR werden 192,60 EUR bar ausgezahlt.

Am 12. November 2015 stellte die Antragstellerin zu 1 für sich und die Antragsteller zu 2 bis 4 beim Antragsgegner einen Antrag auf SGB II-Leistungen. Der Antragsgegner forderte die Antragstellerin zu 1 schriftlich zur Mitwirkung auf und forderte die Vorlage von im Einzelnen aufgelisteten Unterlagen, u.a. lückenlose Auszüge für das in U. geführten Konto seit dem 1. Juli 2015, Belege über die geplante Arbeitsaufnahme im Juli 2015, die Beantragung von Kindergeld bei der Familienkasse, Unterhaltseinkommen und Vaterschaftsanerkennungen sowie der vollständig ausgefüllten Anlagen VM (Vermögen), EK (Einkommen), KI (Kinder), KdU (Kosten der Unterkunft), UH (Unterhalt). Nachdem die Antragstellerin zu 1 die geforderten Unterlagen zum vereinbarten Termin nicht vollständig vorlegen konnte, versagte der Antragsgegner mit Bescheid vom 15. Dezember 2015 gemäß § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I) eine SGB II-Leistungsgewährung wegen fehlender Mitwirkung. Die angeforderten Angaben und Belege würden zur Prüfung des Leistungsanspruchs benötigt.

Dagegen legte die nunmehr anwaltlich vertretene Antragstellerin zu 1 am 21. Dezember 2015 Widerspruch ein. Sie sei dringend auf eine - ggf. vorläufige - Leistungsgewährung angewiesen. Sie könnten lediglich einige Belege - insbesondere solche aus U. - noch nicht beibringen.

Am 7. Dezember 2015 haben die Antragstellerinnen beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht. Sie haben ausgeführt: Sei seien dringend auf SGB II-Leistungen angewiesen. Ihre finanziellen Rücklagen, aus denen sie bislang ihren Lebensunterhalt bestritten hätten, seien aufgebraucht. Die Antragstellerin zu 1 verfüge nur noch über ihr Erwerbseinkommen von monatlich 200 EUR. Die vom Antragsgegner geforderten Unterlagen seien kurzfristig nicht aus U. zu beschaffen. Die Väter de...

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