Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Aufwendungen für den Besuch eines sich in Haft befindlichen nichtehelichen Lebensgefährten
Leitsatz (amtlich)
1. Anders nicht gedeckte und nicht nur einmalige Aufwendungen zum Besuch eines nichtehelichen Lebensgefährten können in einer Sondersituation einen Härtefallmehrbedarf begründen. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG) schützt die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen. Dies erfasst auch Beziehungen außerhalb von Ehe und Familie.
2. Außerhalb des Schutzbereichs von Art 6 GG bedarf die Feststellung einer im Hinblick auf § 21 Abs 6 SGB II relevanten engen persönlichen Bindung, die als tatsächlich gelebte Beziehung von besonderer Nähe, wechselseitiger Verantwortlichkeit füreinander sowie Rücksichtnahme und Beistandsbereitschaft geprägt ist und deshalb für die individuelle personale Existenz herausgehobene Bedeutung hat, regelmäßig einer vertieften Begründung und einer eingehenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls.
3. In welchem Umfang Besuche einer in diesem Sinne nahestehenden Person in Haft im Rahmen von § 21 Abs 6 SGB II zu berücksichtigen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (etwa der konkreten Beziehungssituation vor und während der unfreiwilligen Trennung, anderen Kontaktmöglichkeiten, der Entfernung und den anfallenden Kosten).
Nachgehend
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 16. März 2017 und der Bescheid des Beklagten vom 9. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. März 2015 werden aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 11. November 2014 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 1. Dezember 2014 abzuändern und der Klägerin für den Monat Februar 2015 weitere 79,78 EUR zu gewähren.
Der Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Besuche ihres inhaftierten Lebensgefährten.
Die 1962 geborene Klägerin lebte allein in einer Wohnung in H ... Sie bezog laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Beklagten. Dieser hatte ihr zuletzt mit Bescheid vom 11. November 2014, geändert durch Änderungsbescheid vom 1. Dezember 2014, Arbeitslosengeld II für die Zeit von Dezember 2014 bis Mai 2015 bewilligt. Dieses betrug für den Monat Februar 2015 insgesamt 439,50 EUR. Dabei berücksichtigte der Beklagte als Bedarfe den Regelbedarf i.H.v. 399 EUR, einen Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwassererzeugung i.H.v. 9,18 EUR und Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) i.H.v. 381,46 EUR sowie als bedarfsminderndes Einkommen eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung i.H.v. 380,14 EUR.
Die Klägerin unterhielt nach eigenen Angaben seit 1998 eine Beziehung zu Herrn Al. A ... Dieser befand sich seit August 2012 in Haft, zunächst in der Justizvollzugsanstalt (JVA) H., später in der JVA B., wo die Klägerin ihn regelmäßig besuchte. Im April 2014 hatte sie beim Beklagten erstmals einen - erfolglosen - Antrag auf Leistungen für die bei diesen Besuchen anfallenden Fahrkosten gestellt. Herr A. sei seit September 2013 in B. inhaftiert. Dort besuche sie ihn zweimal im Monat. Die Fahrstrecke von 250 km (Hin- und Rückfahrt) lege sie mit dem Pkw zurück. Aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse sei es ihr aber nicht möglich, die Kosten selbst zu tragen. In der Vergangenheit habe sie keine entsprechenden Anträge gestellt, weil sie nicht gewusst habe, dass sie dafür Leistungen hätte erhalten können.
Unter dem 25. Februar 2015 beantragte die Klägerin beim Beklagten erneut Leistungen für die Fahrten zur JVA B., wo sie ihren Lebensgefährten am 5. und am 19. Februar 2015 besucht habe. Am 5. Februar seien Kosten i.H.v. 44,23 EUR angefallen, am 19. Februar solche i.H.v. 35,55 EUR. Entsprechende Tankquittungen fügte die Klägerin bei, außerdem Besuchsscheine der JVA.
Mit Bescheid vom 9. März 2015 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die Klägerin sei in der Lage, die Kosten aus eigenen Kräften und Mitteln in vollem Umfang zu decken. Es lägen keine temporäre Bedarfsgemeinschaft und kein besonderer, unabweisbarer Bedarf nach den §§ 21, 24 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II) vor.
Den dagegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2015 als unbegründet zurück. Der geltend gemachte Anspruch ergebe sich nicht aus § 21 Abs. 6 SGB II, weil die Fahrkosten keinen unabweisbaren Bedarf darstellten. Sie seien aus der Regelleistung zu bestreiten. Es handele sich nicht um Kosten, die durch die Wahrnehmung eines Umgangsrechts entstünden; vielmehr seien sie mit den Kosten von privaten Besuchen vergleichbar. Es liege auch kein unabweisbarer Bedarf i.S.v. § 24 SGB II vor.
Am 29 April 2015 hat die Kläger...