Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Klagerücknahmefiktion bei unterbliebener Mitwirkungshandlung des Klägers. Begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses. Betreibensaufforderung. Amtsermittlungspflicht des Gerichts

 

Orientierungssatz

1. Betreibt der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht, so wird nach § 102 Abs. 2 SGG die Rücknahme der Klage fingiert. Auf die eintretenden Rechtsfolgen muss der Kläger hingewiesen worden sein. Bei der Rücknahmefiktion handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses.

2. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung durch das Gericht müssen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben. Der Kläger hat das Verfahren nur dann nicht mehr betrieben, wenn er innerhalb der Drei-Monats-Frist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist.

3. Für die Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG ist dann kein Raum, wenn von einem Kläger Mitwirkungshandlungen verlangt werden, welche dieser bereits erfüllt hat oder nicht erfüllen kann.

4. Ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses an der Fortführung des Verfahrens kann nicht damit begründet werden, dass der Kläger eine nach Rechtsansicht des Gerichts erforderliche Mitwirkung unterlassen hat, wenn der Anspruch nach der Rechtsauffassung des Klägers nicht davon abhängt. Dies liefe auf eine Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG unter Vorwegnahme der Beweiswürdigung hinaus.

 

Normenkette

SGG § 102 Abs. 2 Sätze 1, 3, § 103

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 5. März 2013 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Magdeburg zum Aktenzeichen S 45 AS 90220/10 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht bei Verfahrensabschluss vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger und Berufungsführer wenden sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts Magdeburg, mit dem dieses ihre Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Fiktion einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgewiesen und die Verfahrensbeendigung festgestellt hat. In der Sache begehren die Kläger vom Beklagten die Gewährung höherer Leistungen für die Kosten für die Unterkunft und Heizung im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Oktober 2009 bis 31. März 2010.

Die am ... 1973 geborene Klägerin ist mit dem am ... 1974 geborenen Kläger verheiratet. Beide beziehen mit ihren Kindern seit dem 1. Januar 2005 mit Unterbrechungen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie bewohnen ein Eigenheim auf einem im Eigentum der Klägerin stehenden Grundstück, welches diese im Jahr 2004 erworben hat. Über das Wohnhaus haben die Kläger mit der Großmutter des Klägers mit Wirkung zum 1. Juni 2004 einen Mietvertrag abgeschlossen, der auf den 20. Mai 2004 datiert und eine monatliche Gesamtmiete von 321,20 EUR ausweist. Ausweislich eines Schreibens der Großmutter des Klägers vom 14. März 2005 soll die Miete seit dem 1. April 2005 wegen einer Erhöhung der vorauszuzahlenden Betriebskosten 425,76 EUR betragen. Die Wirksamkeit des Mietvertrages sowie die Höhe der den Klägern zustehenden Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) sind zwischen den Beteiligten im Einzelnen streitig.

Mit Bescheid vom 7. Oktober 2009 bewilligte der Beklagte den Klägern und deren Kindern zuletzt vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. Oktober 2009 bis 31. März 2010 in Höhe von monatlich 820 EUR. Dagegen legten die Kläger Widerspruch ein, mit dem sie geltend machten, dass die KdUH in diesem Zeitraum nicht in der tatsächlichen Höhe gewährt würden. Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2010 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger zurück und führte ergänzend aus: Die KdUH könnten lediglich in Höhe von 14 EUR/Monat Berücksichtigung finden, da der vorgelegte Mietvertrag nicht wirksam und weitere Aufwendungen durch die Kläger nicht nachgewiesen seien.

Mit ihrer am 25. Februar 2010 beim Sozialgericht Stendal erhobenen Klage (S 5 AS 220/10; Aktenzeichen des Sozialgerichts Magdeburg: S 45 AS 90220/10) haben die Kläger ihr Begehren weiter verfolgt und vorgetragen, die Aufwendungen für die KdUH seien vom Beklagten an den Vermieter auszukehren. Eine ausführliche Klagebegründung haben sie angekündigt. Dem ist der Beklagte unter Bezugnahme auf seine bisherigen Ausführungen entgegengetreten.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 8. Juni 2010 hat das Sozialgericht die Kläger aufgefordert, "eine umfassende Klagebegründung und sämtliche Kosten der Unterkunft und Heizung im streitigen Zeitraum nachzuw...

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