Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Psyche. paranoide Persönlichkeitsstörung. zwanghafte Fokussierung auf den Gerichtsprozess. chronische Zystitis. Doppelbewertung somatischer Erkrankungsbilder. Merkzeichen G

 

Orientierungssatz

1. Eine chronifizierte paranoide Persönlichkeitsstörung mit querulatorischer Entwicklung (hier belegt durch zwanghafte Fokussierung auf den Gerichtsprozess) kann eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten iS von Teil B Nr 3.7 der in der Anlage zu § 2 VersMedV geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätze darstellen, auch wenn sich der Betroffene durchaus noch situationsadäquat zu verhalten und zumindest teilweise Selbstreflexionen vorzunehmen vermag (hier Einlenken nach rechtlichen Hinweisen des Gerichts).

2. Eine chronische Zystitis ist analog zu Schäden der Harnwege (Teil B Nr 12.2 der in der Anlage zu § 2 VersMedV geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätze) zu bewerten.

3. Um Doppelbewertungen zu vermeiden, sind somatische Erkrankungsbilder auf ihren objektiven Kerngehalt zurückzuführen.

4. Zu weiteren Funktionsbeeinträchtigungen nach Teil B Nr 13.6 (maligner Prostatatumor), Teil B Nr 4.3 (Schielblindheit), Teil B Nr 9.3 (Bluthochdruck), Teil B Nr 18.9 (Wirbelsäulenerkrankung), Teil B Nr 13.2 (Impotentia coeundi) ua.

5. Die Zuerkennung des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) kommt nicht in Betracht, wenn der Antragsteller trotz schmerzhafter Harndrangintensität ortsübliche Gehstrecken noch bewältigen kann.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 24.10.2014; Aktenzeichen B 9 SB 38/14 B)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 19. Mai 2010 wird abgeändert.

Der Bescheid vom 22. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2007 wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt, unter Abänderung der Bescheide vom 13. November 1996, vom 27. September 1999, 14. März 2000, 22. Januar 2001 sowie vom 17. Juni 2010 bei dem Kläger vom 23. November 1998 bis 14. November 2000 einen GdB von 80, vom 15. November 2000 bis 14. November 2005 einen GdB von 100 und ab 15. November 2005 einen GdB von 80 festzustellen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch über die rückwirkende Feststellung der Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Auf Antrag des am .. 1945 geborenen Klägers stellte der Beklagte wegen einer Sehbehinderung mit Bescheid vom 26. August 1992 einen GdB von 30 fest. Nach Widerspruch des Klägers stellte der Beklagte zusätzlich eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest (Abhilfebescheid vom 7. Dezember 1992). Auf den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 25. Juni 1996 stellte der Beklagte nach medizinischen Ermittlungen zusätzlich ein Wirbelsäulenleiden mit chronischem Schmerzsyndrom fest, lehnte jedoch eine Erhöhung des GdB ab (Bescheid vom 13. November 1996). Auf den Widerspruch des Klägers wurden die Behinderungen neu gefasst (psychisch depressive Störung, Blindheit des rechten Auges, Migräne, Hypertonie, Arm- und Lendenmuskelreizsyndrom bei umformenden Veränderungen der Wirbelsäule), dem Widerspruch abgeholfen und ein GdB von 60 festgestellt (Bescheid vom 18. Dezember 1996). Nach einem Überprüfungsverfahren hob der Beklagte den Abhilfebescheid wegen einer wesentlichen Verbesserung auf (Bescheid vom 27. September 1999) und zog nach einem Widerspruch des Klägers weitere medizinische Unterlagen aus einem Rentenverfahren bei (u.a. ein orthopädisches Gutachten von Dr. K-M. vom 24. Mai 1997, ein psychiatrisches Gutachten von der Nervenärztin Dr. B. vom 21. Juni 1997 sowie ein psychiatrisches Gutachten von Dr. M./ Dr. A. vom 16. April 1999 für das gerichtliche Verfahren S 6 RA 288/98. Dr. K.-M. hielt den Kläger auf orthopädischem Gebiet für leichte körperliche Arbeiten ohne anhaltende Zwangshaltungen für vollschichtig arbeitsfähig. Dabei äußerte sie den Verdacht auf eine neurotische Persönlichkeit mit psychogener Überlagerung des diffusen Schmerzsyndroms. Dr. B. diagnostizierte u.a. eine neurotische Fehlentwicklung mit abnormem Kränkungserleben und hypochondrischer Erlebnis- und Fehlverarbeitung einer seit der Kindheit bestehenden Analfistel bei histrionischer Persönlichkeit. In dem psychiatrischen Gutachten vom 16. April 1999 führten die Sachverständigen aus: Der Kläger sei als jüngster von drei Söhnen in L. auf der Flucht der Eltern aus O. geboren worden. Der warmherzige und gutmütige Vater sei als Kriegsinvalide mit der neuen Situation nicht zurechtgekommen und habe sich der sehr dominanten Mutter völlig untergeordnet. Die Mutter habe gegenüber dem Kläger sehr häufig gewalttätig reagiert und seine Brüder bevorzugt. Hieran habe auch die erfolgreiche Ausbildung zum Diplom...

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