Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. GdB von 50. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Diabetes mellitus. Blutzuckerschwankung. HbA1c-Wert. Mobilität und Freizeitverhalten. erhöhter planerischer Mehraufwand. Blutzuckermessungen und zusätzliche Insulingaben. Abstimmung der Insulindosis vor den Mahlzeiten. keine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung
Leitsatz (amtlich)
Ein GdB von 50 aufgrund eines Diabetes mellitus erfordert nicht nur mindestens vier Insulininjektionen pro Tag und ein selbständiges Anpassen der Insulindosis. Zusätzlich müssen gravierende und erhebliche Einschnitte in der Lebensführung vorliegen. Eine solche Feststellung kann bei stabilen HbA1c-Werten um 7% nicht allein auf Blutzuckerschwankungen gestützt werden, da diese der Krankheit immanent sind.
Orientierungssatz
1. Die Mobilität und das Freizeitverhalten sind nicht im Sinne des Teils B Nr 15.1 Abs 4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Anlage zu § 2 VersMedV) "gravierend beeinträchtigt", wenn Aktivitäten in diesen Bereichen - wenn auch verbunden mit einem erhöhten planerischen Aufwand - zumindest unter erschwerten Bedingungen (zB durch erforderliche Blutzuckermessungen und zusätzliche Insulingaben) möglich bleiben.
2. Der Umstand, dass die Insulindosis auf die Mahlzeiten abgestimmt werden muss, ist Teil der Therapie und nicht zusätzlich zu berücksichtigen.
3. Zur GdB-Feststellung im Hinblick auf weitere Gesundheitsstörungen nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen, insbesondere nach Teil B Nr 9.3 (Bluthochdruck mit Organbeteiligung).
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.
Bei der am ... 1952 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 27. April 2009 einen GdB von 40 fest (Diabetes mellitus: Einzel-GdB 40, Funktionseinschränkung rechtes Handgelenk: Einzel-GdB 10, Funktionseinschränkung rechtes Sprunggelenk. Einzel-GdB 10). Dem lag u.a. der Befundschein der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. L. vom 15. Februar 2011 zugrunde, die einen am 27. Januar 2009 festgestellten HbA1c-Wert von 9 % mitgeteilt hatte.
Am 25. Januar 2011 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag und verwies auf die Änderung der gesetzlichen Vorschriften für die Feststellung des GdB bei Diabetes mellitus. Danach lägen die Voraussetzungen der Schwerbehinderteneigenschaft bei ihr vor. Der Beklagte holte einen Befundschein von Dr. L. vom 15. Februar 2011 ein, die einen Diabetes mellitus Typ I, eine diabetische Neuropathie und ein vermindertes Vibrationsempfinden (4/8) diagnostizierte. Nach ihrer Einschätzung sei der Therapieaufwand hoch, weil er täglich jeweils vier bis fünf Blutzuckerkontrollen und Insulininjektionen erforderlich mache. Die Insulindosisanpassung werde nach den Blutzuckerkontrollen durchgeführt. Folgende HbA1c-Werte gab sie an: 26. April 2010: 7,7 %; 5. August 2010: 7,4 %; 11. November 2010: 7,9 %. Der ärztliche Gutachter des Beklagten Dr. R. schlug daraufhin für den Diabetes mellitus weiterhin einen GdB von 40 vor, weil eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte nicht vorliege. Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11. April 2011 den Neufeststellungsantrag der Klägerin ab.
Dagegen legte die Klägerin am 3. Mai 2011 Widerspruch ein und trug vor: Sie sei gravierend in ihrer Lebensführung beeinträchtigt: Sie stehe vollbeschäftigt im Berufsleben. Durch eine hohe Arbeitsbelastung entstünden häufig Stresssituationen. Pausenzeiten könne sie nicht immer regelmäßig einhalten. Die Kontrolle der Zuckerwerte und die Insulingaben seien dabei belastend. Auch in der Freizeit sei sie ein aktiver Mensch. Sie treibe Sport, fahre Rad und habe einen Haushalt sowie einen Garten zu bewältigen. Auch mit ihrer Enkelin unternehme sie viel. Von morgens bis zum späten Abend müsse sie Korrekturinsulingaben vornehmen und zu jeder geregelten Mahlzeit auf der Basis des gemessenen Blutzuckerwertes und des beabsichtigten Essens Insulin spritzen. Dies sei insbesondere bei nicht selbst zubereiteten Mahlzeiten schwierig. Die Folge seien häufige Unterzuckerungen, die sehr belastend seien. Jedes Stück Obst, jeder Saft, jede Leckerei zwängen sie zum Spritzen von Insulin oder zum Verzicht. Auch ungeplante Aktivitäten (Sport, körperliche Arbeit, spontanes Toben mit dem Enkelkind) führten oft zur Unterzuckerung. Sofern sie in späten Abendstunden unterwegs sei (Konzert, Theater, Feier) müsse sie an die Gabe des Langzeitinsulins denken und dies auch unter schwierigen Bedingungen (z. B. keine erreichbare Toilette) durchführen. Ein uneingeschränkter kultureller Genuss sei das für sie nicht. Gravierende Beeinträchtigungen empfinde sie auch bei Urlaubsreisen ins Ausland (Flüge, Zeitverschiebungen und ähnliches). Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Dezember 2011 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.
Dagegen hat die Klägerin a...