Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Klagerücknahmefiktion. fehlende Klagebegründung. Wegfall des Rechtsschutzinteresses. unrechtmäßige Feststellung einer Klagrücknahmefiktion. Zurückverweisung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Fehlen einer Klagebegründung rechtfertigt ohne ein Hinzutreten weiterer Umstände nicht die Annahme, dass der Kläger kein Rechtsschutzinteresse (mehr) habe. Dies gilt insbesondere dann, wenn auch ohne Klagebegründung erkennbar ist, was Klagegegenstand sein soll und weshalb die Überprüfung des angegriffenen Bescheids begehrt wird, und wenn eine Klagebegründung auch nicht angekündigt war.

2. Hat das SG zu Unrecht den Eintritt der Klagerücknahmefiktion angenommen, kann das LSG die Sache gem § 159 SGG an das SG zurückverweisen.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 10. April 2019 wird aufgehoben und die Sache wird an das Sozialgericht Magdeburg zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger wenden sich gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide des Beklagten. Sie haben Berufung erhoben, nachdem das Sozialgericht (SG) durch Urteil festgestellt hatte, dass ihre Klage als zurückgenommen gelte.

Die Kläger bezogen als Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II) vom Beklagten. Mit zwei Bescheiden vom 13. März 2017 hob der Beklagte die Leistungsbewilligung für die Zeit von September 2016 bis Januar 2017 teilweise auf und machte gegen beide Kläger jeweils eine Erstattungsforderung in Höhe von 755,93 EUR geltend, weil der Kläger aufgrund einer Erwerbstätigkeit anrechenbares Einkommen erzielt habe.

Zur Begründung ihres dagegen gerichteten Widerspruchs beriefen die Kläger sich auf Vertrauensschutz. Die ggf. zuviel erhaltenen Leistungen hätten sie bereits für den allgemeinen Lebensunterhalt verbraucht. Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. August 2017 als unbegründet zurück.

Dagegen haben die Kläger am 12. September 2017 beim SG Magdeburg Klage erhoben. Nachdem mehrere Aufforderungen des Gerichts, die Klage zu begründen, erfolglos geblieben waren, hat die Kammervorsitzende am 19. Juni 2018 verfügt, dem Prozessbevollmächtigten der Kläger eine Betreibensaufforderung in Form eines beglaubigten Schreibens zuzustellen. Die elektronisch erstellte Verfügung hat mit der Wiedergabe des vollen Namens und der Dienstbezeichnung der Vorsitzenden sowie dem elektronisch generierten Abschlussvermerk: "Diese eVerfügung wurde von Frau I., Richterin am Sozialgericht, am 19.06.2018 um 10:52 Uhr auch ohne Unterschrift als verbindlich erklärt. Sie ist von der Geschäftsstelle auszudrucken und zur Akte zu nehmen" geendet. Die Betreibensaufforderung ist dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 21. Juni 2018 zugestellt worden. Die Kläger haben darauf nicht reagiert. Deshalb hat das SG ihnen mit Schreiben vom 19. Oktober 2018 mitgeteilt, dass ihre Klage als zurückgenommen gelte. Dem haben die Kläger widersprochen und eine "Wiederaufnahme/Fortsetzung des Verfahrens" beantragt.

Mit Urteil vom 10. April 2019 hat das SG festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme beendet worden sei. Zur Begründung hat es auf seine Aufforderungen, die Klage zu begründen, und auf die Betreibensaufforderung verwiesen. Vor diesem Hintergrund habe es davon ausgehen können, dass kein Rechtsschutzbedürfnis mehr bestehe. Das Urteil ist den Klägern am 29. April 2019 zugestellt worden.

Gegen das Urteil haben die Kläger zunächst - der Rechtsmittelbelehrung des SG folgend - Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Diese haben sie damit begründet, dass keine Pflicht bestehe, eine Klage zu begründen. Nachdem der Berichterstatter sie darauf hingewiesen hatte, dass eine Erstattungsforderung in Höhe von 1.511,86 EUR im Streit stehe und deshalb die Berufung statthaft sei, haben die Kläger am 11. Juli 2019 die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen und Berufung eingelegt. Diese haben sie trotz wiederholter Aufforderung durch den Berichterstatter nicht begründet. Sie haben sich lediglich gegen eine Zurückverweisung der Sache an das SG ausgesprochen.

Konkrete Anträge haben die Beteiligten nicht formuliert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Der Senat hat die Prozessakte des SG und die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen.

 

Entscheidungsgründe

1.

Der Senat kann gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben.

2.

Die Berufung ist zulässig. Sie ist insbesondere statthaft. Insoweit kann dahinstehen, ob auch in Fällen, in denen das SG vom Eintritt der Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 SGG ausgegangen ist, die Berufungsbeschränkung des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zur Anwendung kommt (zum Streitstand siehe Burkiczak, in: Schlegel/V...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge