Rz. 58
Kausalitätsfragen treten insbesondere bei Zusammentreffen von Arbeitskampf und Krankheit auf. Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung ist davon abhängig, ob er ohne die Erkrankung trotz des Streiks gearbeitet hätte. Daher entfällt der Anspruch, wenn alle Arbeitnehmer eines Betriebs oder zumindest auch der Betroffene streiken oder alle Arbeitnehmer ausgesperrt werden. Dasselbe gilt, wenn der Betrieb infolge des Streiks stillgelegt wird.
Denn dann werden sämtliche betroffenen Arbeitsverhältnisse suspendiert mit der Folge, dass auch arbeitswillige Arbeitnehmer ihren Entgeltanspruch verlieren. Unerheblich ist dabei, ob der Arbeitnehmer vor oder nach Beginn des Streiks erkrankt ist. Denn entscheidend ist, dass er ohne die Erkrankung nicht gearbeitet und kein Arbeitsentgelt bekommen hätte. Wäre jedoch trotz des Streiks eine Beschäftigung des Arbeitnehmers ohne die Erkrankung möglich gewesen bzw. hat der Arbeitnehmer zunächst als Arbeitswilliger gearbeitet, hat er im Fall der Erkrankung auch Anspruch auf Entgeltfortzahlung. So hat ein Arbeitnehmer, der vor Streikbeginn erkrankt, weiterhin Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn er sich am Streik nicht beteiligt, seine Teilnahme hieran auch nicht erklärt und als Arbeitswilliger hätte beschäftigt werden können. Der Arbeitgeber kann nämlich nicht unterstellen, dass der "schweigende" erkrankte Arbeitnehmer am Streik teilgenommen hätte. Ein hypothetischer Kausalverlauf ist insofern unbeachtlich. Eine Entgeltfortzahlung scheidet jedoch dann aus, wenn es dem Arbeitgeber nach den Grundsätzen über die Verteilung des Arbeitskampfrisikos nicht möglich oder nicht zumutbar wäre, den Arbeitnehmer zu beschäftigen, wenn er gesund gewesen wäre.
Rz. 59
Umstritten ist, ob ein Arbeitnehmer, der zunächst gestreikt hat, während der Erkrankung durch Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber seine Streikbeteiligung beenden und einen Entgeltfortzahlungsanspruch erlangen kann. Dogmatisch spricht nichts dagegen, dass der Arbeitnehmer, der zunächst nur aufgrund seiner Arbeitsunwilligkeit keinen Lohnanspruch erlangt hatte, diese durch Erklärung beenden kann mit der Folge, dass dem Entgeltfortzahlungsanspruch kein Kausalitätshindernis entgegensteht. Eine rein dogmatische Sicht würde aber zu praktischen Unzuträglichkeiten führen. Der Arbeitgeber ist davor zu schützen, dass der Erkrankte eine "Scheinerklärung" abgibt, um sich möglicherweise mit seiner Gesundung sogleich wieder der Streikfront anzuschließen. Eine Gewissenserforschung ist aber weder dem Arbeitgeber noch dem Arbeitnehmer zuzumuten. Vor diesem Hintergrund wird dem Arbeitgeber teilweise die Möglichkeit eingeräumt, den Einwand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) zu erheben. Zugunsten der Rechtsklarheit und aufgrund der besonderen Situation im Arbeitskampf ist jedoch die Ansicht vorzuziehen, die den Arbeitnehmer an der von ihm getroffenen Wahl, sich am Streik zu beteiligen, festhält und ihm nicht gestattet, durch bloße Erklärung einer Streikabkehr einen Entgeltfortzahlungsanspruch zu begründen.
Rz. 60
Ist ein Betrieb nur mittelbar vom Arbeitskampf betroffen, beurteilt das BAG den Entgeltfortzahlungsanspruch wie den Entgeltanspruch nach der sog. Arbeitskampfrisikolehre: Entscheidend soll danach sein, ob sich der betroffene Betrieb in einer einem bestreikten Betrieb vergleichbaren Situation befindet, d. h. ob Fernwirkungen eines Streiks unmittelbar oder mittelbar zu einer Störung des Kräfteverhältnisses führen können und der Arbeitsausfall nicht durch eine vernünftige vorausschauende Planung hätte vermieden werden können. Ob diese Abgrenzung heute noch ohne Modifikation aufrechtzuerhalten wäre, ist zweifelhaft. Die Reduzierung von Vorräten ist ein wesentlicher Faktor, der die Kosten eines Unternehmens reduziert und seine Wettbewerbsfähigkeit steigert. Die Anlieferung von Zulieferkomponenten "just in time" entspricht beispielsweise in der Automobilfertigung dem Industriestandard. Die Regelungen des Arbeitskampfrechts dürfen nicht dazu führen, dass ein Unternehmen zur Vermeidung von Nachteilen durch "mittelbare Streiks" betriebswirtschaftlich ansonsten unnötige Kosten tragen muss. Es liegt auch weder in der Aufgabe noch in der Kompetenz der Arbeitsgerichte, Managementkonzepte zu beurteilen.