Entscheidungsstichwort (Thema)
Garantenstellung zum Schutz der Vermögensinteressen des Sozialleistungsträgers
Leitsatz (amtlich)
Die Mitwirkungspflicht des Erstattungspflichtigen nach § 60 Abs. 1 S. 2 i.V.m. S. 1 SGB I ist geeignet, eine Garantenstellung zum Schutz der Vermögensinteressen des Sozialleistungsträgers zu begründen. Die Garantenpflicht knüpft an den materiell-rechtlichen Erstattungsanspruch an (Anschluss: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01.03.2012, III 3 RVs 31/12, juris = NZWiSt 2012, 351, 352) und fordert darüber hinaus nicht die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens zur Rückgewähr der Leistungen.
Normenkette
StGB § 13 Abs. 1-2, § 49 Abs. 1, § 263 Abs. 1, 3; SGB I § 60 Abs. 1 Sätze 1-2; SGB VI § 118 Abs. 4 Sätze 1, 4; SGB X § 50 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Wolfsburg (Entscheidung vom 08.07.2014) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg vom 8. Juli 2014 aufgehoben.
Die Feststellungen zum Schuldspruch werden indes aufrechterhalten.
Im Übrigen wird das Rechtsmittel als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Wolfsburg zurückverwiesen.
Gründe
I.
Durch das angefochtene Urteil hat das Amtsgericht Wolfsburg den Angeklagten wegen Betruges durch Unterlassen (§§ 263 Abs. 1, 13 StGB) mit einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten belegt. Das Gericht hat die Strafe dem Strafrahmen des § 263 Abs. 3 StGB entnommen und ihre Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.
Nach den Urteilsfeststellungen bezog die "wohl im November 2011" verstorbene Mutter des Angeklagten, L. H., Pflegegeld und Rente. Der Angeklagte beschloss angesichts seiner eigenen "desaströsen" Vermögensverhältnisse, den Tod seiner Mutter zu verschweigen, um diese Zahlungen weiterhin zu erhalten. Er offenbarte deshalb den Tod gegenüber den Sozialleistungsträgern nicht und vergrub den Leichnam in einem Waldstück. Die Deutsche BKK zahlte - so die weiteren Feststellungen - von November 2011 bis Mai 2013 insgesamt 7.910,- € Pflegegeld aus. Außerdem leistete die Deutschen Rentenversicherung - nach den Urteilsgründen für den Zeitraum von November 2011 bis 30. November 2013 - Witwenrente in Höhe von 8.996,60 € sowie eine Versichertenrente in Höhe von 2.410,- €.
Die Zahlungen von insgesamt 19.316,60 € erfolgten jeweils auf das ehemalige Konto der Verstorbenen. Der Angeklagte hob den Betrag nach den Feststellungen "peu à peu" vom Konto ab und verbrauchte das Geld für seinen Lebensunterhalt. Ob er zum Zeitpunkt der Abhebungen verfügungsberechtigt war, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Ebenso ist nicht festgestellt, wann die Abhebungen erfolgten und welche Beträge der Angeklagte im Einzelnen abgehoben hat. Ferner ergibt sich aus dem Urteil nicht, ob der Angeklagte Erbe ist. Dem Angeklagten war nach den Urteilsgründen allerdings bewusst, dass die Leistungen für seine verstorbene Mutter bestimmt waren und nicht erbracht worden wären, wenn er die Sozialleistungsträger zuvor über deren Tod in Kenntnis gesetzt hätte. Er ging auch davon aus, dass er die Sozialversicherungsträger hätte informieren müssen. Ihm war lediglich unbekannt, an welche Stelle er sich konkret hätte wenden müssen.
Das Amtsgericht meint, die für die Verurteilung wegen Betruges durch Unterlassen erforderliche Garantenpflicht folge aus § 60 Abs. 1 S. 2 i. V. m. S. 1 SGB I. Der Angeklagte sei gemäß § 118 Abs. 4 S. 1 SGB VI zur Erstattung der von ihm zu Unrecht vereinnahmten Sozialleistungen verpflichtet gewesen.
Der Angeklagte hat gegen das Urteil vom 8. Juli 2014 am 15. Juli 2014 Revision eingelegt. Nach Zustellung der Urteilsgründe (am 21. Juli 2014) hat er das Rechtsmittel mit einem am 15. August 2014 eingegangenen Schriftsatz begründet. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts: Für eine Verurteilung wegen Betruges durch Unterlassen fehle die erforderliche Garantenpflicht. Sie folge insbesondere nicht aus § 60 Abs. 1 S. 2 i. V. m. S. 1 SGB I. Denn das materiell-rechtliche Bestehen eines Erstattungsanspruchs genüge nicht, um eine Mitwirkungspflicht zu begründen. Das Amtsgericht habe im Übrigen die Milderungsmöglichkeit der §§ 13 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB nicht erörtert. Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und ihn freizusprechen.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt wie erkannt.
II.
Die Revision ist als Sprungrevision statthaft (§ 335 StPO) und auch sonst zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Rechtsmittel hat in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, weil die Feststellungen des Amtsgerichts die Verurteilung nicht tragen. Ein Freispruch, wie ihn der Angeklagte beantragt, kommt demgegenüber nicht in Betracht. Denn eine Verurteilung wegen Betruges durch Unterlassen (§§ 263, 13 StGB) scheitert nicht aus Rechtsgründen, sondern allein an den lückenhaften tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts, zu deren Ergänzung...