Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Dauer und Höhe der Leistungseinschränkung. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eingeschränkte Leistungen nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz (juris: AsylbLG) sind unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu gewähren. Im Verfahren des Eilrechtschutzes ist die Dauer auf drei Monate zu begrenzen. Der Höhe nach dürfen die Leistungseinschränkungen 30 Prozent bezogen auf Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz nicht übersteigen (im Anschluss an BVerfG vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 = BVerfGE 152, 68).

2. Ein abgelaufener Reisepass und eine ID-Card eines libanesischen Staatsbürgers können allenfalls dazu dienen, seine Identität zu klären. Nur ein gültiger Reisepass oder Passersatz gewährleisten im Rahmen ihrer Gültigkeitsdauer die Verpflichtung zur Wiederaufnahme des Betroffenen durch den Ausstellerstaat. Der Betroffene ist nach § 48 Abs 3 Aufenthaltsgesetz (juris: AufenthG 2004) dazu verpflichtet, bei der Botschaft seines Herkunftsstaates auch um einen Passersatz nachzusuchen.

 

Tenor

I. Der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 30. September 2020 wird aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung unter Anrechnung erbrachter Leistungen dazu verpflichtet, die mit Bescheid vom 17. August 2020 festgestellte Leistungseinschränkung nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz bezüglich der Dauer auf die Zeit vom 1. September 2020 bis zum 30. November 2020 und hinsichtlich der Höhe auf 30 Prozent der dem Antragsteller zustehenden Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz zu begrenzen. Im Übrigen wird der Eilantrag abgelehnt. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen dem Grunde nach zur Hälfte zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vom Antragsgegner ungekürzte Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) entsprechend den Vorschriften des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Der 1990 geborene Antragsteller ist libanesischer Staatsbürger. Er reiste am 4. November 2015 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 9. November 2015 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), ihm Asyl zu gewähren bzw. ihm internationalen Schutz einzuräumen. Mit Bescheid der Landesdirektion Sachsen - Zentrale Ausländerbehörde - vom 30. November 2015 wurde der Antragsteller der Antragsgegnerin zugewiesen zur Durchführung des Asylverfahrens. Der Antragsteller hatte am 13. November 2015 eine Aufenthaltsgestattung erhalten. Während seiner Anhörung am 19. Dezember 2016 teilte er mit, dass er seinen Reisepass "im Meer verloren" habe. Seinen Personalausweis habe er an seinem ursprünglichen Wohnort in K..../Libanon zurückgelassen. Obwohl seine Eltern und seine vier Geschwister dort noch lebten, kenne er dort niemanden, der ihm den Ausweis nach Deutschland übersenden könnte. Das BAMF lehnte den Antrag auf Asyl ab (Bescheid vom 15. Februar 2017). Zudem wurde weder die Flüchtlingseigenschaft noch ein subsidiärer Schutzstatus zuerkannt. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen. Ansonsten werde er in den Libanon abgeschoben oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Die dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht A.... ab (Urteil vom 23. Oktober 2017 - ....). Die Abschiebungsandrohung ist vollziehbar seit dem 16. Februar 2018.

Daraufhin stellte die Antragsgegnerin dem Antragsteller am 29. März 2018 eine Duldungsbescheinigung auf der Grundlage des § 60 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) aus, da dieser über keine Rückreisedokumente verfüge. Der Antragsteller bestätigte an diesem Tag mit seiner eigenhändigen Unterschrift, dass er keinen Pass bzw. keine Identitätspapiere besitze und diese Angaben nach bestem Wissen und Gewissen richtig und vollständig gemacht habe. Zugleich wurde er von der Antragsgegnerin darüber belehrt, dass er dazu verpflichtet sei, bei der Beschaffung eines Passes, Passersatzes, von Urkunden und sonstigen Unterlagen, die für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit sowie für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit notwendig seien, mitzuwirken und - sollte er im Besitz solcher Dokumente sein - dazu verpflichtet sei, diese dem Antragsgegner auszuhändigen. Auch die Belehrung unterzeichnete der Antragsteller am 29. März 2018 eigenhändig. Die Duldungen sind seither regelmäßig verlängert worden.

Mit Schreiben vom 15. November 2019 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller erneut dazu auf, einen Pass oder Passersatz bis zum 17. ...

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