Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Behandlung eines rezidivierenden Glioblastoms mit Bevacizumab (Avastin) und Irinotecan im Rahmen des Off-Label-Use

 

Leitsatz (amtlich)

Soweit bei Standardtherapie-refraktärem rezidivierendem Glioblastom eine "last-line"-Therapie mit Bevacizumab (Avastin) und Irinotecan ärztlich verordnet wird und diese beim Patienten gut anspricht, indem sie das Tumorwachstum aufhält, ist ein Anspruch auf diese Behandlung nach den Kriterien für den Off-Label-Use iVm § 2 Abs 1a SGB V ausnahmsweise gegeben.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 27. April 2018 aufgehoben.

II. Die Beschwerdegegnerin wird verpflichtet, dem Beschwerdeführer bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung im Widerspruchsverfahren vorläufig als Sachleistung die Therapie mit den Arzneimitteln Bevacizumab/Irinotecan zur Behandlung des Glioblastoms nach Verordnung der behandelnden Ärzte zu gewähren.

III. Die Beschwerdegegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeführers für beide Instanzen.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die vorläufige Kostenübernahme bzw. Sachleistungsgewährung einer Chemotherapie mit Bevacizumab (Avastin®) in Kombination mit Irinotecan gegen ein rezidivierendes Glioblastom.

Der 1963 geborene Antragsteller leidet seit Oktober 2013 an einem rezidivierenden Hirntumor vom Typ Glioblastoma multiforme rechts frontal, WHO Grad IV (ICD-10: C 71.9), MGMT methyliert. Am 23.10.2013 erfolgte eine navigationsgestützte mikrochirurgische Tumorentfernung mit osteoplastischer Trepanation. In dem Zeitraum von Dezember 2013 bis Januar 2014 erfolgte eine Strahlen- und gleichzeitige Chemotherapie mit Temozolomid (Temodal®) und von Februar 2014 bis August 2014 eine 5-zyklische adjuvante Temozolomid-Therapie. Am 12.08.2014 wurde ein erstes Rezidiv operiert. Daraufhin wurde die Chemotherapie im Zeitraum von September 2014 bis Februar 2015 auf eine intensivierte zwei-zyklische PCV-Polychemotherapie (Procarbazin, CCNU (Lomustin) und Vincristin) umgestellt. Im Februar 2015 wurde ein zweites Rezidiv festgestellt. Von Februar bis Juni 2015 erhielt der Antragsteller acht Zyklen Temozolomid (Temodal®). Im Juni 2015 zeigte sich ein drittes Rezidiv mit Progression. Daraufhin empfahl das neuroonkologische Tumorboard eine Systemtherapie mit Bevacizumab in Kombination mit Irinotecan. Von Juli 2015 bis Februar 2018 erhielt der Antragsteller davon über 63 Zyklen jeweils im Abstand von ca. zwei Wochen. Bei den MRT-Untersuchungen des Schädels, zuletzt am 17.01.2018, zeigten sich jeweils unveränderte Substanzdefekte frontal rechts mit umgebender Gliosezone und kein Anhalt für einen Rezidivtumor. Den geplanten weiteren Behandlungstermin am Mittwoch, den 07.03.2018, hat die behandelnde Klinikum A.... gGmbH abgelehnt, da die Antragsgegnerin die Kostenübernahme für die Behandlung mit Bevacizumab abgelehnt hatte.

Daraufhin beantragte der Antragsteller am 12.03.2018 die Kostenübernahme für die Chemotherapie mit Bevacizumab/Irinotecan. Mit Bescheid vom 14.03.2018 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Sie holte Gutachten von Dipl.-Med. Z.... vom Medizinischen Dienst der Gesetzlichen Krankenversicherung (MDK) vom 18.08.2016, 20.03.2018 und 13.04.2018 ein, deren Begründung sie folgte. Bei dem Antragsteller liege eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor, die mittlere Überlebenszeit bei aktuell gängigen Therapiemethoden betrage 15 Monate, im Einzelfall wenige Jahre. Auch die neurochirurgische Operation könne ein Fortschreiten der Erkrankung nicht verhindern, nur verlangsamen. Die medikamentösen Möglichkeiten mit der Radio-Chemotherapie (Ganzhirnbestrahlung sowie Behandlung mit Temodal, Cisplatin, Lomustin, Vincristin) seien ausgeschöpft. Alternativ habe aber eine Vorstellung an einem strahlentherapeutischen Zentrum zur Prüfung der Option einer stereotaktischen hypofraktionierten Strahlentherapie eventuell in Kombination mit IMRT (Intensitätsmodulierte Strahlentherapie) erfolgen können. Auch ein Einschluss in eine Studie für die Rezidivtherapie des Glioblastoms mit den neuen Substanzen habe erwogen werden können (Vorstellung an einem universitären Zentrum).Avastin® (Bevacizumab) sei in Kombination mit Irinotecan im Off-Label-Use angewendet worden. Bis Dezember 2017 hätten sich die Medikamentenkosten für 63 Zyklen auf 216.500,00 EUR belaufen. Avastin® sei zwar ein verkehrsfähiges Arzneimittel in Deutschland, aber nicht für die Behandlung von Glioblastomen zugelassen. Der Hersteller, F. Hoffmann-La Roche AG, habe bei der Europäischen Arzneimittelbehörde (European Medicines Agency, EMA) einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung von Avastin® gestellt. Die zuständige Fachkommission der EMA sei im Wege einer Nutzen-Risiko-Abwägung zu dem Ergebnis gekommen, dass der Nutzen einer Therapie mit Avastin®. angesichts der erhöhten Toxizität in der AVAGlio-Studie und fehlender neuer Wirksamkeitsdaten aus randomisierten, kontrollierten Studien weder in der Erstlinienbehandlung noch in der...

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