Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. keine Berücksichtigung fiktiven Einkommens. vorrangige Sozialleistung. Verweigerung der Beantragung vorzeitiger Altersrente. Rentenantragstellung durch Grundsicherungsträger. Verletzung von Mitwirkungspflichten im Rentenverfahren. Leistungsentziehung bei fehlender Mitwirkung in analoger Anwendung des § 66 SGB 1
Leitsatz (amtlich)
1. Eine vorzeitige Altersrente kann nicht schon vor ihrer Bewilligung als "fiktives Einkommen" berücksichtigt werden, das die Hilfebedürftigkeit iS von § 9 Abs 1 SGB 2 vermindert oder entfallen lässt. Dies gilt auch dann, wenn der Leistungsträger diese Rente gem § 5 Abs 3 S 1 SGB 2 für den Leistungsberechtigten beantragt hat und es dem Leistungsberechtigten möglich wäre, durch Mitwirkung im Rentenverfahren zeitnah einen tatsächlichen Zufluss der vorzeitigen Altersrente zu erreichen.
2. Der Leistungsträger hat jedoch die Möglichkeit, dem Leistungsberechtigten, der seiner Mitwirkungspflicht im Rentenverfahren nicht nachkommt, in entsprechender Anwendung des § 66 Abs 1 SGB 1 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu versagen oder zu kürzen. Hierzu muss er den Leistungsberechtigten entsprechend § 66 Abs 3 SGB 1 zuvor konkret und verständlich auf seine Mitwirkungspflicht im Rentenverfahren hinweisen und ihm eine angemessene Frist setzen, in der er seiner Pflicht nachzukommen hat.
Normenkette
SGB I § 60 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 66 Abs. 1 S. 1, Abs. 3; SGB II § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 3, § 9 Abs. 1, § 11 Abs. 1 S. 1, § 12a Sätze 1, 2 Nr. 1, § 5 Abs. 3 S. 1, §§ 7, 11b Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 2 Nr. 1, § 19; SGG § 86b Abs. 2 Sätze 2, 4; ZPO § 920 Abs. 2
Tenor
I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 12. Januar 2015 wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die am ...1951 geborene Antragstellerin bezieht seit 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, zuletzt vom Antragsgegner bewilligt für den November 2014 in Höhe von insgesamt 683,66 EUR (davon 362,20 EUR für den Regelbedarf und 321,46 EUR für Unterkunft und Heizung).
Nachdem der Antragsgegner die Antragstellerin mit Bescheiden vom 29.07.2013 und 21.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2013 aufgefordert hatte, eine vorzeitige Altersrente ab Vollendung des 63. Lebensjahres zu beantragen, stellte er am 04.12.2013 bei der Deutschen Rentenversicherung M… (DRV) einen Rentenantrag und meldete zugleich einen Erstattungsanspruch an. Die gegen diese Bescheide gerichtete Klage hatte vor dem Sozialgericht Leipzig (SG) nur insoweit Erfolg, als die Antragstellerin darin aufgefordert worden sei, eine Altersrente mit Rentenbeginn vor dem 01.02.2014 zu stellen (Gerichtsbescheid vom 13.05.2014 - S 17 AS 4284/13 - juris). Gegen die Klagabweisung im Übrigen legte die Antragstellerin am 13.06.2014 Berufung zum Sächsischen Landessozialgericht (LSG) ein (L 8 AS 780/15).
Unter dem 16.09.2014 teilte die DRV dem Antragsgegner mit, dass sie die Antragstellerin unter Hinweis auf den vom Antragsgegner gestellten Rentenantrag und den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der dagegen erhobenen Klage aufgefordert habe, bis zum 10.10.2014 einen “formellen Rentenantrag„ zu stellen. Daraufhin beantragte die Antragstellerin am 10.10.2014 beim Sächsischen LSG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (L 8 AS 1232/14 ER).
Am 15.10.2014 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner die Weiterbewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit ab 01.12.2014. Der Antragsgegner forderte die Antragstellerin mit Schreiben vom 28.10.2014 auf, bis zum 14.11.2014 einen “Nachweis über die formelle Rentenantragstellung„ beizubringen. Das Schreiben enthielt eine Belehrung über die Mitwirkungspflichten aus § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und den Hinweis, dass Leistungen gemäß §§ 60, 66, 67 SGB I im Falle eines Ausbleibens der geforderten Mitwirkung ganz versagt werden könnten, bis die Mitwirkung nachgeholt werde. Unter dem 10.11.2014 teilte die Antragstellerin mit, sie werde der Aufforderung vom 28.10.2014 nicht nachkommen. Daraufhin lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 25.11.2014 die Weiterbewilligung von Leistungen für die Zeit ab 01.12.2014 ab. Es bestehe keine Hilfebedürftigkeit gemäß § 9 Abs. 1 i.V.m. § 2 SGB II, da die Antragstellerin der “Aufforderung zur Rentenantragstellung (formelle Antragstellung)„ nicht nachgekommen sei. Hiergegen legte die Antragstellerin am 01.12.2014 Widerspruch ein.
Zugleich hat die Antragstellerin am 04.12.2014 beim SG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Weiterbewilligung von Grundsicherungsleistungen beantragt. Zur Begründung hat sie dar...