Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Streitigkeit über örtliche Zuständigkeit. gewöhnlicher Aufenthalt. Nichtanwendung des § 43 Abs 1 SGB 1. sozialgerichtliches Verfahren. Rechtsschutzbedürfnis bei Beschwerde gegen einstweilige Anordnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts setzt eine wenigstens kurzzeitige tatsächliche Aufenthaltsnahme an diesem Ort voraus.

2. § 98 SGB 12 ist die gegenüber § 43 Abs 1 SGB 1 speziellere Vorschrift.

3. Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragsgegners und Beschwerdeführers gegen eine stattgebende einstweilige Anordnung des Sozialgerichts entfällt nicht, wenn der Beschwerdeführer der Anordnung zur Abwendung einer Zwangsvollstreckung nachgekommen ist.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 30.11.2007 geändert. Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme von Heimkosten gewähren.

II. Der Beigeladene hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Streitig ist die vorläufige Übernahme der Kosten für eine Heimunterbringung.

Der am …-…1990 geborene Antragsteller und Beschwerdegegner (im Folgenden: Antragsteller) ist griechischer Staatsangehöriger. Er leidet unter einer schweren geistigen Behinderung und schweren Verhaltensstörung, ist nur mit Unterstützung gehfähig, inkontinent und braucht Hilfe bei der Nahrungsaufnahme.

1991 reiste er mit seinen Eltern, die seither in L. eine griechische Gaststätte betreiben, nach Deutschland ein. 1993 kehrte er nach Griechenland zurück, wo er von seiner Großmutter gepflegt wurde; der Kontakt zu seinen Eltern und seinen drei jüngeren Geschwistern wurde über Besuche aufrecht erhalten. Nachdem die Großmutter den Antragsteller aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr pflegen konnte, erkundigten sich die Eltern am 01.12.2006 bei der Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) nach der Möglichkeit einer stationären Unterbringung. Am 27.02.2007 beantragten sie für den Antragsteller Heimunterbringung und Sozialhilfe. Am 01.03.2007 meldeten sie ihn unter ihrer Wohnanschrift in L. an.

Nach seiner Einreise in Deutschland am 21.03.2007 wurde der Antragsteller unmittelbar im Kinderwohnheim R. der Stiftung X. in Thüringen im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen untergebracht. Der Beigeladene und die Antragsgegnerin stritten im weiteren Verlauf über die Zuständigkeit hinsichtlich der Übernahme der Heimkosten.

Am 28.03.2007 schloss der durch seine Eltern vertretene Antragsteller mit Wirkung vom 22.03.2007 mit dem Träger des Wohnheimes, der Stiftung X, einen Heimvertrag auf unbestimmte Zeit.

Die Antragsgegnerin lehnte die Übernahme der Kosten für die vollstationäre Unterbringung des Antragstellers mit Bescheid vom 09.05.2007 ab. Da ein gewöhnlicher Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland nicht festzustellen sei, sei der Leistungsträger am Ort des tatsächlichen Aufenthaltes zuständig. Am 29.05.2007 wurde gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt. Mit Rechnung vom 07.08.2007 stellte die Stiftung X.. dem Vater des Antragstellers für die Monate Mai bis Juli 2007 einen Betrag von insgesamt 9.910,83 EUR in Rechnung.

Am 10.09.2007 ist beim Sozialgericht Leipzig (SG) Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit dem Begehren der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) gestellt worden. Der Anordnungsanspruch gründe sich auf §§ 8, 53 ff. SGB XII. Als Bürger der Europäischen Union sei der Antragsteller, der ein Daueraufenthaltsrecht EU innehabe, leistungsberechtigt. Er sei auch bedürftig. Die Voraussetzungen für Leistungen der Eingliederungshilfe für die vollstationäre Unterbringung in der “Stiftung X.„ hätten mit der Aufnahme des Antragstellers am 21.03.2007 vorgelegen, wobei von der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit der Antragsgegnerin auszugehen sei. Hinsichtlich des gewöhnlichen Aufenthaltes sei darauf abzustellen, wo sich die Lebensverhältnisse des Betroffenen an einem Ort in familiärer, sozialer und beruflicher Hinsicht verfestigten. Vorliegend sei zu berücksichtigen, dass die Familie den Sohn nach Deutschland gebracht habe, damit er hier bei seiner Familie lebe, auch wenn er sich einer Einrichtung aufhalte. Hinzu komme, dass nach dem hier maßgeblichen Willen der Eltern ein gewöhnlicher Aufenthalt des Sohnes in Deutschland habe begründet werden sollen, dass die persönlichen Kontakte und die Fürsorge der Familie in L. seien und die Betreuung und Beherbergung in R.. Da wegen § 109 SGB XII der Aufenthaltsort in R. nicht als gewöhnlicher Aufenthalt gelte, sei vorliegend auf den Aufenthalt bei der Familie abzustellen. Ein Anordnungsgrund sei ebenfalls gegeben. Der Antragsteller sei bedürftig. Die erheblichen Kosten für den Aufenthalt in der Einrichtung könnten...

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