Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Erstattung von über dem Festbetrag liegenden Kosten für selbstbeschaffte Hörgeräte. Wirtschaftlichkeitsgebot. objektivierbarer Gebrauchsvorteil. Freiburger Sprachtest. besseres Sprachverständnis sowohl im Nutz- als auch im Störschall von 5% als nicht wesentlich
Orientierungssatz
1. Zum Streit über die Erstattung von über dem Festbetrag liegenden Kosten für selbstbeschaffte Hörgeräte.
2. Die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hörgerätesystem kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (vgl BSG vom 16.9.2004 - B 3 KR 20/04 R = BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr 8).
3. Der für ein Hilfsmittel festgesetzte Festbetrag, der eine besondere Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsgebots darstellt, begrenzt die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nur dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht (vgl ua BSG vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R = BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2, RdNr 23ff).
4. Wesentliches Abgrenzungskriterium muss die Frage sein, ob das begehrte Hörgerät einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen, zum Festbetrag erhältlichen Hörhilfen bietet. Voraussetzung hierfür ist, dass sich der Hörgewinn objektivieren lässt; ein subjektiver Eindruck des Versicherten kann hingegen nicht ausreichen. Es bedarf vielmehr eines messbaren Gebrauchsvorteils (vgl LSG Neustrelitz vom 9.7.2019 - L 6 KR 62/19 B ER = juris RdNr 24).
5. Der objektivierbare Gebrauchsvorteil erschöpft sich hier im Wesentlichen in einem zum Teil besseren Sprachverständnis sowohl im Nutz- als auch im Störschall von 5%. Angesichts des Umstandes, dass im Freiburger Sprachtest insgesamt 20 Wörter abgefragt werden, bedeutet dies lediglich, dass die Klägerin mit dem selbstbeschafften Hörgerät jedes zwanzigste Wort besser verstehen konnte. Diese Abweichung ist nach Auffassung des erkennenden Senats nicht wesentlich.
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 9. August 2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind für beide Instanzen nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von über dem Festbetrag liegenden Kosten für selbstbeschaffte Hörgeräte in Höhe von 3.981,42 EUR
Die 1960 geborene Klägerin war bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie ist gelernte Wirtschaftskauffrau für Gesundheits- und Sozialwesen und arbeitete seit Januar 1995 im Berufsbildungswerk für Hör- und Sprachgeschädigte als Sachbearbeiterin. Seit dem 01.11.2022 ist sie Rentnerin. Die Klägerin leidet an einer beidseitigen hochgradigen Schallempfindungsschwerhörigkeit, rechts an Taubheit grenzend. Ihr ist allein aufgrund der Schwerhörigkeit ein GdB von 70 sowie das Merkzeichen RF zuerkannt.
Aufgrund dieses Krankheitsbildes verordnete die behandelnde Fachärztin für HNO-Heilkunde Dr. med. W. am 15.09.2016 die beidseitige Versorgung mit Hörhilfen. Die Klägerin teste daraufhin bei dem Hörgeräteakustik-Meister V. "Gutes Hören V." insgesamt 12 verschiedene Hörsysteme, von denen zwei Modelle (AUDIO SERVICE Mezzo 4 HP sowie Audio Service HP 3 G3) im zuzahlungsfreien Festbetragsbereich lagen. Die Testung dieser Hörsysteme erfolgte in Form vergleichender Anpassung am 29.09.2016. Getestet wurden u.a. die Hörsysteme "AUDIO SERVICE Mezzo 4 HP und AUDIO SERVICE Mezzo HP 3 G3" (Festbetragsgeräte, Ausstattungsmerkmale: Digitale Technik, 4 Kanäle, bzw. 12 Kanäle das HP3 G3, Frequenzgang bis 6 kHz, Störschallunterdrückung von 5 dB, Lärmmanagement, Rückkopplungsunterdrückung, 3 Hörprogramme, Telefonanbindung über Telefonspule, manuell einzustellende omnidirektionale Richtmikrofontechnik, Verstärkerleistung von mehr als 75 dB) und das begehrte Hörsystem "OTICON Dynamo SP 10" (Überfestbetragsgerät zusätzlich u.a. folgende Ausstattungsmerkmale: 9 Kanäle, Impulsschallunterdrückung, Windgeräuschunterdrückung, Speech Rescue, binaurale Koordination und Brain Hearing, Bluetooth). Der Klägerin war das Hörsystem AUDIO SERVICE Mezzo 4 HP im Anpasszeitraum 22.11.2016-14.12.2016, das Hörsystem AUDIO SERVICE Mezzo HP 3 G3" im Anpasszeitraum vom 20.12.2017-02.01.2018 und das Hörsystem "OTICON Dynamo SP 10" im Anpasszeitraum vom 15.02.2017 bis 04.05.2017 überlassen. Aus dem Anpass- und Abschlussbericht des Hörgeräteakustikmeisters V. vom 27.12.2017 ergibt sich, dass Testergebnisse hinsichtlich des Sprachverständnisses von jeweils 70 % in Freifeldmessung in Ruhe erzielt wurden. Für das Sprachverstehen nach dem Freiburger Sprachtest für Einsilber ergab sich für das AUDIO SERVICE Mezzo 4 HP im Freifeld Nutzschall bei 65 dB 70 % im Störschall bei 60 dB 40 %, für das AUDIO SERVICE HP 3 G3 im Fre...