Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Überprüfungsantrag nach § 44 SGB 10. Verkürzung der Vierjahresfrist. Verfassungsmäßigkeit. Jahresfrist auch für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch maßgeblich
Leitsatz (amtlich)
1. Die seit 1.4.2011 geltende Verkürzung der Vierjahresfrist auf ein Jahr für das SGB 2 betreffende Überprüfungsverfahren (§ 40 Abs 1 S 2 SGB 2 iVm § 44 Abs 4 SGB 10) ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie beruht auf dem Grundgedanken, dass für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die als steuerfinanzierte Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts und der Eingliederung in Arbeit dienen und dabei in besonderem Maß die Deckung gegenwärtiger Bedarfe bewirken sollen (sog Aktualitätsgrundsatz), die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB 10 zu lang ist (BT-Drucks 17/3404, S114, 117; vgl BSG vom 26.6.2013 - B 7 AY 6/12 R = BSGE 114, 20 = SozR 4-3520 § 9 Nr 4).
2. Die Verkürzung der Frist gem § 40 Abs 1 S 2 SGB 2 iVm § 44 Abs 4 SGB 10 gilt auch im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 19. Februar 2013 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache darüber, ob der Kläger die Überprüfung der für die Zeit vom 01.12.2006 bis 30.11.2007 ergangenen Leistungsbescheide nach dem SGB II gemäß § 44 SGB X insoweit verlangen kann, als der Beklagte Kosten der Unterkunft und Heizung um 65,78 € niedriger als beantragt bewilligt hat.
Der Kläger stand im Leistungsbezug des Beklagten nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Im Zeitraum vom 11.12.2006 bis 31.05.2007 bewilligte der Beklagte ihm insgesamt Leistungen in Höhe von 611,00 € monatlich (Bescheid vom 14.11.2006). Hierin enthalten waren Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 266,00 €. Mit weiterem Bescheid vom 08.05.2007 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 01.06.2007 bis 30.11.2007 Leistungen in gleicher Höhe und gleicher Zusammensetzung. Mit Bescheid vom 02.06.2007 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 01.07.2007 bis zum 30.11.2007 Leistungen i.H.v. 613,00 € monatlich. Nach der Betriebskostenabrechnung vom 01.07.2009, wonach sich an den Vorauszahlungen nichts geändert hatte, war die gesamte monatliche Miete mit 331,78 € (Grundmiete 256,23 €) festgesetzt worden. Nach der Mietbescheinigung vom 25.05.2009 betrug die monatliche Gesamtmiete 321,78 €, solange der Kläger Leistungen nach dem SGB II erhalte; sobald dies nicht mehr der Fall sei, betrage die Grundmiete wieder 256,55 €. Nach dem Kontoauszug vom 01.11.2011 bezahlte der Kläger Miete i.H.v. 331,78 €.
Mit zwei Schreiben vom 12.05.2011 beantragte der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Überprüfung der Bescheide vom 14.11.2006, 08.05.2007 und 02.06.2007 hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung, da diese unter Bezugnahme auf eine rechtswidrige Angemessenheitsrichtlinie gekappt worden seien, die tatsächlichen Kosten jedoch deutlich höher lägen, und zwar ausdrücklich zum Einen für die Zeit vom 01.01.2007 bis 30.11.2007 und zum Anderen für die Zeit vom 01.07.2007 bis 30.11.2007.
Mit Bescheiden vom 18.08.2011 wies der Beklagte die vorgenannten Überprüfungsanträge zurück. Da die Leistungen längstens für einen Zeitraum von einem Jahr vor der Rücknahme erbracht werden könnten, könne die Rücknahme und die nachträgliche Leistungserbringung frühestens ab 01.01.2010 erfolgen, sodass der Antrag wegen Verfristung unzulässig sei.
Hiergegen legte der Kläger jeweils am 22.09.2011 Widerspruch ein. Selbst wenn die Auffassung des Beklagten greife, ergebe sich ein Korrekturanspruch aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Vor der Rechtsänderung des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II neuer Fassung sei aus mehreren Klageverfahren bekannt gewesen, dass die Kosten der Unterkunft und Heizung in rechtswidriger Weise gekappt worden seien. Für die nicht von den Klagen ergriffenen Zeiträume habe es der Beklagte pflichtwidrig unterlassen, von Amts wegen die entsprechenden Unterkunftskosten neu einzustellen und den errechneten Nachzahlungsbetrag zur Auszahlung zu bringen. Hierzu habe jedoch eine Verpflichtung von Amts wegen bestanden. Im Übrigen stelle die Neuregelung des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II eine Ungleichbehandlung gegenüber Empfängern anderer Sozialleistungen dar.
Die Widersprüche wurden jeweils durch Widerspruchsbescheide vom 29.11.2011 zurück-gewiesen. Eine Korrektur von Bescheiden nach § 44 SGB X scheitere bereits an § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der ab dem 01.04.2011 in Kraft getretenen Fassung. Eine Überprüfung von bestandskräftigen Entscheidungen sei danach nur noch in einem Zeitraum von einem Jahr möglich. Auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch greife nicht. Zumindest sei die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II auch auf den Herstellungsanspruch anzuwende...