Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung für den Erlass eines Gerichtsbescheides im sozialgerichtlichen Verfahren um die Feststellung eines Grades der Behinderung. Umfang der Pflicht zur Amtsermittlung

 

Orientierungssatz

1. Ein Gerichtsbescheid kommt im sozialgerichtlichen Verfahren über die Feststellung eines Grades der Behinderung nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Sachverhalt auch in medizinischer Hinsicht geklärt ist. Dabei ist ein Sachverhalt erst dann als geklärt anzusehen, wenn Zweifel hinsichtlich des Sachverhalts ausgeschlossen sind, insbesondere auch die Feststellungen zu Gesundheitsbeeinträchtigungen und den daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen abschließend geklärt sind. 

2. Kann den Verwaltungsakten in einem Verfahren über die Festsetzung eines Grades der Behinderung nicht entnommen werden, in welchem Maße und Umfang bestimmte Gesundheitsbeeinträchtigungen zu konkreten Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Betroffenen führen, so muss das Sozialgericht den Sachverhalt von Amts wegen weiter aufklären, insbesondere durch die Einholung von entsprechenden Sachverständigengutachten, auch wenn es sich beim Grad der Behinderung nicht um einen medizinischen, sondern einen rechtlichen Begriff handelt.

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 2. September 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.

II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 30.

Die am ... 1953 geborene Klägerin stellte am 14. Januar 2013 bei der Beklagten einen Antrag auf Feststellung einer Behinderung, des GdB und die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises nach § 69 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX). Zur Begründung wurde ausgeführt, bei ihr liege eine rezidivierende depressive Episode mit erheblicher Beeinträchtigung in der Erwerbsfähigkeit vor, eine Migräne mit sehr häufigen Anfällen über mehrere Tage (andauernd mit Medikation), ein Wirbelsäulenschaden der HWS und dadurch eine Unfähigkeit zur Feinmotorik in der Hand rechts und dauernden Schmerzen im Arm.

Es wurde ein Entlassungsbericht der Klinik für Schmerztherapie und Palliativmedizin des D. Krankenhauses C. vom 5. Dezember 2012 beigezogen (Diagnosen: 1. Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, 2. Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode, 3. Chronisch myofasziales Schmerzsyndrom, 4. V.a. Tendovaginitis stenosans de Quervain rechts, 5. Radiale Epicondylalgie rechts, 6. Leicht erhöhte Gamma-GT, 7. Verdacht auf Schwindel unter Beta-Blocker, 8. Verdacht auf Vitamin B12 Mangel, 9. Anamnestisch Migräne mit Aura, DD: Myofasziales Schmerzsyndrom) und ein Rehabilitations-Entlassungsbericht der M. Klinik H. vom 25. Februar 2013 (Diagnosen: 1. Rez. depr. Störung, ggw. mittelgradige Episode, 2. Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, 3. Migräne, 4. Rez. Cervicobrachialgie, 5. All. Rhinopathie).

Es wurden verschiedene Befundberichte eingeholt:

- von Dr. B. (Facharzt für Orthopädie in C., vom 1. Februar 2013): erste Vorstellung am 27. Juli 2006 mit Pause von 2007 bis 2011 und letzte Vorstellung am 13. Februar 2012. Im Februar 2012 hätten Handgelenkschmerzen rechts im Vordergrund gestanden, auch Schmerzen im Hals-Nacken-Bereich, 2011 mehr Kopfschmerzen.

- von Dipl.-Psych. H. (Psychologischer Psychotherapeut in C.), der unter dem 4. Februar 2013 mitteilte, bei der Klägerin führe er eine ambulante tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie durch. Bisher hätten fünf probatorische und 23 weitere therapeutische Sitzungen stattgefunden; Behandlungsdiagnosen: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige depressive Episode bei depressiv-zwanghafter Persönlichkeitsstruktur; chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.

- von Dr. S. (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in C., vom 23. April 2013): Die Klägerin habe sich erstmals 1996 vorgestellt wegen damals bereits langjährig bestehender Migräne mit Augenflimmern, Übelkeit, gelegentlichem Erbrechen und linksseitigem Kopfschmerz. Eine erneute Vorstellung sei im Oktober 2011 erfolgt. Sie habe über häufig (ein- bis zweimal wöchentlich) auftretende Migräne wie auch über innere Unruhe, Aufgeregtsein, geringe Belastbarkeit, Schlafstörungen bei anhaltender familiärer Belastungssituation berichtet. Sie habe psychisch ängstlich-angespannt mit gedrückter Stimmung gewirkt. Insgesamt sei neben der Migräneerkrankung von einer Anpassungsstörung auszugehen. Es sei eine psychologische Behandlung empfohlen worden, keine Medikation diesbezüglich.

Für den Ärztlichen Dienst schätzte Dr. F. unter dem 25. April 2013 einen Gesamt-GdB von 30 ein (seelische Störung - Einzel-GdB 20, Migräne - Einzel-GdB 20, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule - Einzel...

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