Verfahrensgang
SG Chemnitz (Urteil vom 16.10.1995; Aktenzeichen S 7 Kn 105/94) |
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 16. Oktober 1995 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Tandem-Therapiefahrrad.
Der am … geborene Kläger leidet seit seiner Geburt an einem Morbus Landon Down (Down-Syndrom) mit angeborenem Herzfehler. Nach ärztlicher Feststellung liegt bei ihm deshalb eine Schwerstschädigung in Form einer schweren perinatalen Hirnschädigung vor, die eine an der Grenze zur Hochgradigkeit liegende geistige Behinderung zur Folge hat. Der Kläger ist in seinem Sprachvermögen stark gestört. Zu einer selbstkoordinierten Fortbewegung mittels Fahrrad ist er nicht fähig. Zu einer Fördertagesstätte muß er von seinen Eltern gebracht werden. Er benötigt ständige Hilfe und ständige Aufsicht bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens. Aussicht auf Besserung oder Besserungstendenz bestehen nicht. Auf die ärztlichen Äußerungen der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. Ostwaldt vom 28. Oktober 1985 und des Facharztes Dr. Gehrke vom 21. März 1991 wird Bezug genommen (Bl. 3 ff. Verwaltungsakte ≪VA≫).
Unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung beantragte der Kläger bei der Beklagten die Versorgung mit einem Therapiefahrrad als Zweirad-Tandem, dessen Kosten sich nach dem Voranschlag der Fa. „PRO REHA” vom 24. Februar 1994 mit Fußhalterung und Klettriemen, Rückenlehne als Seitenlehne sowie Dehnfeld-Sattel einschl. MwSt. auf den Betrag von 3.592,60 DM belaufen. Nach den Angaben der Beklagten betragen die Kosten nach einem neuen Voranschlag 3.764,64 DM.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 07. März 1994 unter Hinweis auf den von den Spitzenverbänden erstellten Hilfsmittelkatalog ab; dem Kläger werde eine Orientierung auf ein Spezialdreirad anheimgestellt; dieses könne ggf. zur Verfügung gestellt werden. In dem den Widerspruch zurückweisenden Bescheid vom 29. Juli 1994 führte die Beklagte weiter aus, der geltend gemachte Gegenstand stelle einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar, bei dem die Therapiezwecke im Hintergrund stünden.
Hiergegen hat sich die am 29.08.1994 erhobene Klage gerichtet, auf die das Sozialgericht unter anderem folgende ärztliche Äußerungen eingeholt hat: Der Orthopäde Dr. Peterlein hat unter dem 5. Oktober 1994 ausgeführt, der Kläger sei angesichts des Krankheitsbildes zur selbständigen und zielsicheren Bedienung eines Dreirades nicht in der Lage. Durch die unterstützende Lenkung und Leitung des Mitfahrenden trete eine deutliche Stimulation aller Sinne ein. Zudem seien ein umfassendes Muskeltraining, die Koordination zwischen linker und rechter Körperhälfte, Balancesicherheit, psychisches und physisches Durchhaltevermögen, Sicherheit und Selbständigkeit, eine Verbesserung der Mobilität gewährleistet. Im Befundbericht der Fachärztin für Kinderheilkunde Schmiedel vom 27. Oktober 1994 ist angegeben, der Kläger sei immer weniger bereit, sich fortzubewegen; er könne nur kurze Strecken laufen, so daß auch der Muskeltonus nachlasse; zudem sei er völlig auf die Mithilfe einer Bezugsperson angewiesen und könne auch nicht kurzfristig allein gelassen werden. Der vom Sozialgericht als Sachverständiger bestellte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Doz. Dr. med. habil. Schier hält die Versorgung mit dem geltend gemachten Tandem-Therapiefahrrad für erforderlich; im Gutachten vom 14. April 1995 führt der Sachverständige aus, der Kläger meide wegen seiner Erkrankung größere Anstrengungen; ohne Fremdantrieb reduziere sich das Laufvermögen zunehmend. Die Förderfähigkeit sei im ganzen stark begrenzt. Ein Tandem-Therapiefahrrad könne dazu beitragen, den schwierigen Therapie- und Förderungsprozeß gerade in der jetzt erreichten kritischen Entwicklungsphase zu sichern. Die damit verbundene Fortbewegung erfordere einen höheren Kraftaufwand, ohne das Herz-Kreislauf-System zu überlasten. Die Nutzung eines Dreirades sei wegen der geistigen Behinderung nicht möglich. Im Vordergrund des Einsatzes stehe insgesamt die medizinisch-rehabilitative Zweckrichtung. Wegen der Einzelheiten der ärztlichen Äußerungen wird auf die Sozialgerichtsakte verwiesen (Bl. 16, Bl. 29 ff., Bl. 58 ff.).
Daraufhin hat die Beklagte die Versorgung mit einem Tandem-Therapiefahrrad angeboten, allerdings mit der Maßgabe der Übernahme eines Eigenanteils durch den Kläger in Höhe von 900 DM; nur der übersteigende Betrag stelle aus ihrer Sicht den behinderungsgerechten Mehraufwand dar. Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Beklagte sodann Klageabweisung beantragt. Das Sozialgericht hat die Beklagte durch Urteil vom 16. Oktober 1995 zur Versorgung des Klägers mit einem Tandem-Therapiefahrrad ohne Zuweisung eines ...