Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. Muskeldystrophie. Sturzgefahr bei Bodenunebenheiten. mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Mindest-GdB von 80. Funktionseinschränkungen der Arme mit negativen Auswirkungen auf die Gehfähigkeit
Orientierungssatz
1. Maßgeblich für die Bewertung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nach § 229 Abs 3 SGB 9 2018 ist das normale mit Unebenheiten versehene Lebensumfeld und nicht das ideale Umfeld eines Krankenhausflures (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 15.1.2015 - L 13 SB 22/14).
2. Ein mobilitätsbezogener Grad der Behinderung von 80 nach § 229 Abs 3 SGB 9 2018 kann auch die Funktionseinschränkung der Arme umfassen, wenn sich diese (hier wegen fehlender Gleichgewichtskoordination und fehlender Kompensationsmöglichkeit durch eine Gehhilfe oder einen Rollator) negativ auf das Gehvermögen auswirkt.
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. Juni 2019 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Abänderung seines Bescheides vom 18. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. August 2018 verpflichtet, bei dem Kläger ab 12. Februar 2020 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt der Beklagte ¾.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG.
Der 1972 geborene Kläger leidet an einer progressiven Muskeldystrophie Typ Becker-Kiener sowie einer Herzmuskelschwäche, die seit 2016 mit einem Defibrillator und Herzschrittmacher versorgt ist.
Der Kläger beantragte am 08.09.2017 bei dem Beklagten die Feststellung eines höheren als des bisher mit 60 festgestellten GdB sowie die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG.
Mit Bescheid vom 18.12.2017 stellte der Beklagte nach versorgungsärztlicher Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen fest, dass der GdB nunmehr 80 betrage und die Voraussetzungen für das Merkzeichen G weiterhin vorlägen, nicht jedoch die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG. Aus der Stellungnahme des ärztlichen Dienstes vom 12.12.2017 geht hervor, dass die Muskeldystrophie Typ Becker unverändert mit einem Einzel-GdB von 60 bewertet wurde. Es handle sich um eine progrediente Erkrankung, bei hoher Vorbewertung lasse sich eine Erhöhung des Teil-GdB nicht ausreichend begründen. Laut aktuellem neurologischem Befund sei Schlucken und Essen weiterhin gut möglich, maximale Gehstrecke 1 Kilometer, Treppensteigen mit Geländerhalt. Die Funktionsbeeinträchtigungen in der Funktionsgruppe Herz-Kreislauf seien aufgrund der Implantation des Kardioverter-Defibrillators mit 50 zu bewerten. DCM mit primärprophylaktischer ICD Implantation 08/2016 bei hochgradig eingeschränkter linksventrikulärer Ejektionsfunktion mit 22 Prozent, Verlaufsbefunde und eine aktuelle Echokardiographie fehlen, laut neurologischem Befund können Gehstrecken von einem Kilometer bewältigt werden. Den hinsichtlich des Merkzeichen aG eingelegten Widerspruch wies der Kommunale Sozialverband Sachsen mit Widerspruchsbescheid vom 13.08.2018 zurück.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht Befundberichte der behandelnden Ärzte des Kläger eingeholt und ein Gutachten erstellen lassen von Prof. Dr. Z. Der Kläger könne aktuell mindestens 500 Meter gehen. In bestimmten Situationen brauche er Hilfsmittel bei der Bewegung (z. Bsp. Aufstehen, Treppensteigen), im Oberschenkel sei keine Kraft vorhanden. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG lägen nicht vor.
Mit Gerichtsbescheid vom 25.06.2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es sei äußerst zweifelhaft, ob der nach § 229 Abs. 3 SGB IX anzusetzende GdB von 80 allein aufgrund einer mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung gegeben sei. Unabhängig davon habe der Gutachter eindeutig und überzeugend dargestellt, dass der Kläger sich nicht nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen könne.
Mit der am 02.07.2019 nach Zustellung des Gerichtsbescheids am 25.06.2019 zum Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehen weiter.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 25.06.2019 aufzuheben und den Beklagten zur Abänderung des Bescheids vom 18.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.08.2018 dahingehend zu verurteilen, dass der Beklagte verpflichtet wird, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das Gericht hat auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG ein Gutachten eingeholt von Dr. Y., Neurologie, vom 09.03.2020, Tag der Untersuchung 12.02.2020. Der Kläger habe aufgrund der Muske...