Rz. 15
Ausnahmen von Satz 2 Nr. 1 lässt eine aufgrund der Ermächtigung des § 13 Abs. 2 tatsächlich erlassene Verordnung zu. Sie regelt Sachverhalte, bei denen auch nach Vollendung des 63. Lebensjahres eine geminderte Rente wegen Alters nicht in Anspruch genommen werden muss, weil eine solche Verpflichtung angesichts der in Anspruch genommenen Leistung nach Zeitraum oder Höhe in keinem akzeptablen Verhältnis zu den Nachteilen steht, die mit der vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente einhergehen. Zu Einzelheiten der Ermächtigung zur Verordnung vgl. die Komm. zu § 13. Die Jobcenter haben daher zu prüfen, ob ein Unbilligkeitstatbestand vorliegt, und wenn das nicht der Fall ist, darüber zu entscheiden, ob sie den Leistungsberechtigten zur Antragstellung auffordern. Hierzu muss der Leistungsberechtigte selbst spezifische Aspekte vortragen.
Rz. 16
Aufgrund der Ermächtigung des § 13 Abs. 2 hat das BMAS die Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung – UnbilligkeitsV) v. 14.4.2008 erlassen (BGBl. I S. 734). Sie ist rückwirkend am 1.1.2008 in Kraft getreten. Die Verordnung regelt grundlegend, dass Leistungsberechtigte bei Unbilligkeit nicht zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Rente wegen Alters nach Vollendung des 63. Lebensjahres verpflichtet sind (§ 1 UnbilligkeitsV).
Rz. 17
§ 2 UnbilligkeitsV definiert nicht die Unbilligkeit. Eine Inanspruchnahme i. S. d. § 1 UnbilligkeitsV ist danach nur unbillig, wenn und solange sie zum Verlust des Anspruchs auf Alg I als eigentumsrechtlich geschützten Anspruch auf eine Sozialleistung führen würde. Mit dieser Regelung zielt der Verordnungsgeber auf die sog. Aufstocker, die nur ergänzend Grundsicherungsleistungen erhalten, vorrangig jedoch Alg beziehen, damit allein aber nicht ihren Bedarf zum Lebensunterhalt und der mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen decken können. In welchem Verhältnis Alg und die Grundsicherungsleistungen der Höhe nach zueinander stehen, ist unerheblich. Entscheidend für die Unbilligkeit ist vielmehr, dass der Anspruch auf das Alg in eigentumsrechtlicher Weise verfassungsrechtlich geschützt ist, aber bei Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente nicht mehr realisiert werden könnte. Das ist z. B. bei der Versicherungsleistung Alg der Fall, weil der Bezug der Rente den Anspruch auf Alg nach § 156 SGB III zum Ruhen bringt. Der Alg-Bezieher darf durch die Grundsicherungsstellen auch dann nicht nach § 5 Abs. 3 zur Rentenantragstellung aufgefordert werden, wenn er nur wenige Euro monatlich an Alg erhält. Der Grundsicherungsstelle ist in diesen Fällen auch untersagt, die Rente für den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten selbst zu beantragen. Das trifft im Kern auf alle mehr oder weniger wertlosen Ansprüche zu, z. B. auch ausländische Altersrenten. Die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente ist unbillig, wenn und solange sie zum Verlust eines Anspruchs auf Alg führen würde, damit wird jedoch nur eine Unbilligkeit bei Bezug von Arbeitslosengeld erfasst, für die Zeit des Erwerbs einer Anwartschaft auf einen Arbeitslosengeldanspruch gilt § 4 UnbilligkeitsV (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 30.4.2019, L 20 AS 1122/18).
Rz. 18
§§ 3 bis 5 UnbilligkeitsV regeln eine bevorstehende abschlagsfreie Rente, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit sowie eine bevorstehende Erwerbstätigkeit als Sachverhalte, bei denen die Inanspruchnahme einer Altersrente mit Abschlägen unbillig wäre. Innerhalb der letzten 6 Monate vor der möglichen Inanspruchnahme einer abschlagsfreien Rente wegen Alters, weil das Regelrentenalter erreicht wird, besteht die Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente mit Abschlägen nicht (§ 3 UnbilligkeitsV). Dies wäre unbillig, weil die Abschläge während der gesamten Rentendauer, also unter Umständen über Jahrzehnte, vorgenommen werden, obwohl die Regelaltersrente in nächster Zukunft tatsächlich in Anspruch genommen werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG ist mit Altersrente in § 3 UnbilligkeitsV aufgrund des Regelungszusammenhangs mit § 12a Satz 2 Nr. 1 und § 1 UnbilligkeitsV die abschlagsfreie Inanspruchnahme jeder Altersrente gemeint. Die Inanspruchnahme einer mit Abschlägen versehenen Altersrente hat das BSG als unbillig angesehen, wenn nur ein Zeitraum von 4 Monaten bis zum Beginn der abschlagsfreien Rente liegt (BSG, Urteil v. 9.8.2018, B 14 AS 1/18 R). Eine etwa 2 1/2 Jahre umfassende Zeitspanne zwischen dem möglichen Beginn einer abschlagsbehafteten Altersrente und der abschlagsfreien Regelaltersrente ist demgegenüber zu lang, um noch die Anforderung einer bevorstehenden abschlagsfreien Altersrente zu erfüllen (BSG, Urteil v. 24.6.2020, B 4 AS12/20 R).
Rz. 19
Nach § 4 UnbilligkeitsV schützt eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder ein monatliches Einkommen von über 450,00 EUR aus sonstiger Erwerbstätigkeit (löst ungeachtet von Übergangsregelungen grundsätzlich Sozialversicherungspflicht aus, weil im Falle abhängiger Beschä...