Rz. 87
Mit Wirkung zum 1.1.2021 wurde Abs. 6a in das SGB II eingefügt. Nach dieser Vorschrift sind Aufwendungen zur Anschaffung oder Ausleihe von Schulbüchern oder gleichstehenden Arbeitsheften als Mehrbedarf anzuerkennen, wenn und soweit sie als für Schüler aufgrund der jeweiligen schulrechtlichen Bestimmungen oder schulischen Vorgaben entstehen. Dieser gesetzgeberischen Entscheidung war Rechtsprechung insbesondere des LSG Niedersachsen-Bremen und des BSG vorausgegangen.
Rz. 87a
Das LSG Niedersachsen hat mit Urteil v. 11.12.2017 (L 11 AS 1503/15) Anschaffungskosten für Schulbücher anerkannt (214,40 EUR für die 11. Klasse des Gymnasiums). Schulbuchkosten sind zwar ein besonderer, jedoch kein laufender Bedarf i. S. v. Abs. 6. Es handelt sich demnach um eine planwidrige Regelungslücke, dass für durch Lernmittelfreiheit nicht abgedeckte Schulbuchkosten im Gesamtgefüge des SGB II keine auskömmlichen Leistungen vorgesehen sind. Diese planwidrige Regelungslücke ist durch eine analoge Anwendung des Abs. 6 zu schließen, soweit der Bedarf im Einzelfall unabweisbar ist. Die Kosten für Schulbücher sind dem LSG zufolge ausweislich der Gesetzesbegründung nicht von der Pauschale nach § 28 Abs. 3 umfasst (unter Hinweis auf BT-Drs. 17/3404 S. 104 u. a.). Stattdessen sollen die Kosten für Schulbücher durch die monatlichen Regelbedarfe abgedeckt sein (vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/3404 S. 104). Obwohl der Gesetzgeber die Schulbuchkosten im Regelbedarf verortet, deckt der Regelbedarf diese Kosten allerdings für das LSG offensichtlich bzw. evident nicht ausreichend ab. Das BSG hat die Anwendung des § 73 SGB XII bei Schulbüchern abgelehnt. Soweit der Gesetzgeber zur Rechtslage ab 2011 entgegen seinem eigenen Anspruch die Kosten für Schulbücher nicht ausreichend im Regelbedarf erfasst hat, kann dies nicht dazu führen, die Kosten auf den Sozialhilfeträger abzuwälzen. Typische Bedarfe von SGB II-Leistungsbeziehern sind vielmehr im SGB II zu decken. Einem besonderen Bedarf i. S. d. Abs. 6 kann demnach auch nicht entgegengehalten werden, dass die Befriedigung derartiger Bildungsbedarfe nicht dem SGB II obliege, weil die Deckung von Bedarfen für den Schulunterricht, die der Durchführung des Unterrichts selber dienen, in der Verantwortung der Schule liege und daher von den Schulen und Schulträgern nicht auf das Grundsicherungssystem abgewälzt werden dürfe (unter Hinweis auf BSG, Urteil v. 10.9.2013, B 4 AS 12/13 R). Dieser Rechtsauffassung steht die Rechtsprechung des BVerfG entgegen, wonach der Bundesgesetzgeber durch den Erlass des SGB II von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG abschließend Gebrauch gemacht hat. Der Bund trägt dementsprechend die Verantwortung für die Sicherstellung des gesamten menschenwürdigen Existenzminimums. Dieser Verantwortung kann er sich weder durch eine abstrakte Verweisung auf konkurrierende Landeskompetenzen entziehen, die er den Ländern durch sein eigenes Gesetz bereits versperrt hat, noch mit dieser Begründung von der Berücksichtigung solcher Ausgaben absehen, die nach seinen eigenen normativen Wertungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendig sind. Zudem würde erst ein anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt die Pflicht des Bundes mindern, weil das menschenwürdige Existenzminimum von Verfassungs wegen durch Rechtsansprüche gewährleistet sein muss. Die Zuständigkeit der Länder betrifft überdies den personellen und sachlichen Aufwand für die Institution Schule und nicht den individuellen Bedarf eines hilfebedürftigen Schülers. Der Bundesgesetzgeber könnte somit erst dann von der Gewährung entsprechender Leistungen absehen, wenn sie durch landesrechtliche Ansprüche substituiert und hilfebedürftigen Kindern auch tatsächlich gewährt würden. Solange und soweit dies jedoch nicht der Fall ist, hat der Bundesgesetzgeber, der mit dem SGB II ein Leistungssystem schaffen wollte, welches das Existenzminimum vollständig gewährleistet, dafür Sorge zu tragen, dass mit dem Bürgergeld dieser zusätzliche Bedarf eines Schulkindes hinreichend abgedeckt ist. Das LSG folgt der Rechtsprechung des BVerfG, da das Land Niedersachsen bzw. die Schule der Klägerin keine kostenfreie Übernahme der Schulbücher ermöglicht. Der aufgetretene Bedarf in Höhe von 202,90 EUR für die Beschaffung von Schulbüchern war für das LSG unabweisbar. Ein Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Die Klägerin war schulpflichtig und aufgrund schulrechtlicher Normen auch verpflichtet, die Bücher auf eigene Kosten zu beschaffen. Kosten für Schulbücher als notwendige Aufwendungen für Bildung sind Teil des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums. Eine Deckung des Bedarfs erfolgt nicht durch die monatlich gewährten Regelbedarfe nach § 20 Abs. 2 Sa...