Rz. 90
Von einer Leistungsminderung nach früherem Recht bis zum 4.11.2019 betroffene Leistungsberechtigte hatten Anspruch darauf, dass die ergangene Entscheidung durch das Jobcenter überprüft und ggf. ganz oder teilweise zurückgenommen (aufgehoben) wurde. Der Überprüfung lagen neben den Übergangsregelungen durch das BVerfG selbst, die seit dem 5.11.2019 Gesetzeskraft hatten, und den weiter anzuwendenden Regelungen des § 44 SGB X und des § 40 Abs. 3 zugrunde. Nach § 44 SGB X waren unanfechtbare Minderungsbescheide oder die Leistung ganz aufhebenden Bescheide mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergab, dass bei Erlass des Bescheides das Recht unrichtig angewandt wurde oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erwiesen hat und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
Rz. 91
§ 40 Abs. 3 enthält dazu eine Einschränkung. Diese Vorschrift baut auf dem Sachverhalt auf, dass die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes, hier also eines Bescheides nach § 31a, vorliegen, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Minderungsbescheides hier nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Diese Bescheide waren danach, sofern sie unanfechtbar geworden sind, nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des BVerfG zurückzunehmen. Die Einschränkung beinhaltete im Ergebnis zweierlei: Rechtswidrige Minderungsbescheide waren überhaupt nicht zurückzunehmen, wenn der Zeitraum für die Leistungsminderung am 5.11.2019, dem Tag der Urteilsverkündung, bereits vollständig abgelaufen war. Diese Fälle musste das Jobcenter im Ergebnis erst gar nicht überprüfen. Härtefall und Wohlverhalten waren folglich auch nach der Rechtsprechung beim Leistungsberechtigten auch bei einem nicht bestandskräftigen Minderungsbescheid nicht zu prüfen, wenn der relevante Minderungszeitraum vor dem Entscheidungstermin des BVerfG vom 5.11.2019 abgelaufen war (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 17.6.2020, L 4 AS 709/15).
Das galt auch für den Fall, in dem der Überprüfungszeitraum nach § 44 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 40 Abs. 1 am 5.11.2019 noch nicht abgelaufen war. Lag ein Überprüfungsantrag vor, musste darauf jedoch ein (ablehnender) Bescheid ergehen. Lagen Minderungszeiträume nach § 31a (in Ausnahmefällen auch nach § 32 Abs. 2 i. V. m. § 31b Abs. 1 Satz 1) nach dem 4.11.2019, waren diese frühestens für die Zeit ab 5.11.2019 oder einem späteren Zeitpunkt, zu dem die Aufhebungsvoraussetzungen vorlagen, ganz oder teilweise aufzuheben. Die frühestmögliche Aufhebung betraf den Tag der Urteilsverkündigung, dieser umfasste bereits Zeiten nach der Entscheidung des BVerfG v. 5.11.2019 i. S. v. § 40 Abs. 3 Satz 1.
Rz. 92
Die Regelung galt für Minderungsbescheide, die bis zum 5.11.2019 unanfechtbar geworden waren.
Rz. 92a
Die Überprüfung erstreckte sich ferner auf die am 5.11.2019 nicht unanfechtbaren, also nicht bestandskräftigen Minderungsbescheide. Diese waren bei Vorliegen der Voraussetzungen für den gesamten Minderungszeitraum oder ab dem Tag des Vorliegens der Voraussetzungen hierfür zurückzunehmen.
Rz. 93
Eine vor dem 5.11.2019 festgesetzte, nicht bestandskräftige Leistungsminderung nach Abs. 1 i. V. m. § 31a Abs. 1 Satz 1 a. F., die Zeiträume nach dem 5.11.2019 erfasst, verpflichtete nur dann zur (mündlichen) Anhörung und zum Hinweis auf eine Verkürzung bei Bekundung zukünftiger Pflichterfüllung, wenn eine reale Chance auf eine ernsthafte Erklärung zur Mitwirkungsbereitschaft bestand (SG Berlin, Urteil v. 20.11.2020, S 37 AS 11335/19).
Rz. 94
Zu überprüfen waren zunächst die Leistungsminderungen für den durch das Urteil des BVerfG unmittelbar betroffenen Personenkreis der mindestens 25 Jahre alten Leistungsberechtigten mit Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 1 bis 3 a. F. in Fällen des § 31 Abs. 1. Die Leistungsminderungen waren auf 30 % des maßgebenden Regelbedarfs zu reduzieren, zusätzlich war zu prüfen, ob die Feststellung einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs eine außergewöhnliche Härte bedeutet hat, dann war die Leistungsminderung sogar vollständig zurückzunehmen. Andernfalls war zu prüfen, ob die Mitwirkungshandlung nachgeholt worden ist oder die glaubhafte und nachhaltige Erklärung abgegeben worden ist, zukünftig den Pflichten nachzukommen. War das der Fall, war die Leistungsminderung ab dem Tag der nachgeholten Mitwirkung bzw. der Bereiterklärung aufzuheben, frühestens jedoch ab dem 5.11.2019. Dasselbe galt für die Fälle, in denen im Hinblick auf den noch laufenden Minderungszeitraumdie Mitwirkung auch noch nachgeholt werden konnte und tatsächlich nachgeholt wurde oder die Bereitschaft zur zukünftigen Mitwirkung mit der erforderlichen Güte noch abgegeben wurde.
Rz. 95
Auch die Minderungsbescheide, die eine Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs (bei erster Pflichtverletzung) feststellten, waren unge...