Rz. 99
Nach Abs. 2 Satz 2 soll das Jobcenter persönlich anhören, wenn die Leistungsberechtigten ohne Vortrag eines wichtigen Grundes wiederholt ihre Pflichten verletzen oder Meldetermine versäumen. Ziel der Regelung ist es nach der Gesetzesbegründung, dauerhafte Leistungsminderungen und einen daraus ggf. resultierenden dauerhaften Kontaktabbruch zum Jobcenter zu vermeiden und festzustellen, was ursächlich für das Verhalten der Leistungsberechtigten ist. Mögliche Härtefälle nach Abs. 3 sollen identifiziert werden (vgl. BT-Drs. 20/3873). Dabei ist demnach insbesondere zu hinterfragen, ob mit den Maßnahmen des Jobcenters die Ziele der Grundsicherung für Arbeitsuchende erreicht werden können. Das entspricht einer Vorgabe des BVerfG, damit die Leistungsminderung für den Leistungsberechtigten nicht unzumutbar erscheint. Vor dem Hintergrund der zwingenden Notwendigkeit dieses Abgleichs kann die persönliche Anhörung der Gesetzesbegründung zufolge auch durch alternative Formen der Kontaktaufnahme, wie zum Beispiel telefonische oder aufsuchende Kontaktaufnahme stattfinden.
Rz. 100
Das Gesetz gibt als Anlass wiederholte Pflichtverletzungen oder wiederholte Meldeversäumnisse vor. Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus erscheint eine persönliche Anhörung auch angemessen, wenn sich wiederholte Pflichtverletzungen aus Vorkommnissen nach § 31 und § 32 zusammengerechnet ergeben. Bezogen auf Meldeversäumnisse hat das BSG bereits in der Vergangenheit verdeutlicht, dass ein Jobcenter im Einzelfall nicht Meldeaufforderungen mehrfach wiederholen kann, ohne das eigene Vorgehen zu überprüfen.
Rz. 101
Das BVerfG hat in seiner Entscheidung v. 5.11.2019 (1 BvL 7/16) dargelegt, dass Leistungsminderungen nur verhältnismäßig sind, wenn die Belastungen der Betroffenen auch im rechten Verhältnis zur tatsächlichen Erreichung des legitimen Zieles stehen, die Bedürftigkeit zu überwinden, also eine menschenwürdige Existenz insbesondere durch Erwerbsarbeit eigenständig zu sichern. Ihre Zumutbarkeit richtet sich vor allem danach, ob die Leistungsminderung unter Berücksichtigung ihrer Eignung zur Erreichung dieses Zwecks und als mildestes, gleich geeignetes Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Belastung der Betroffenen steht. Das setzt insbesondere voraus, dass es den Betroffenen tatsächlich möglich ist, die Minderung staatlicher Leistungen durch eigenes zumutbares Verhalten abzuwenden und die existenzsichernde Leistung wiederzuerlangen. Das kann ein wesentlicher Gesichtspunkt in der persönlichen Anhörung sein. Die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG sind für das BVerfG nur gewahrt, wenn die zur Deckung des gesamten existenznotwendigen Bedarfs erforderlichen Leistungen für hilfebedürftige Leistungsberechtigte jedenfalls bereitstehen und es in ihrer eigenen Verantwortung liegt, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten.
Rz. 102
Die persönliche Anhörung kann auch dazu dienen, herauszufinden, ob eine Mitwirkungspflicht wegen besonderer Umstände des Einzelfalls von vornherein ungeeignet ist, ihr Ziel zu erreichen. Aus verfassungsrechtlichen Gründen ist dem BVerfG zufolge sicherzustellen, dass es den Leistungsberechtigten möglich ist, etwaige besondere Umstände wie familiäre oder gesundheitliche Probleme oder eine Diskriminierung am aufgegebenen Arbeitsplatz darzulegen, die bei objektiver Betrachtung der geforderten Mitwirkung entgegenstanden und auch einer künftigen Mitwirkung entgegenstehen können. Bei entsprechenden Anhaltspunkten muss Leistungsberechtigten Gelegenheit gegeben werden, ihre persönliche Situation nicht nur schriftlich, sondern auch im Rahmen einer mündlichen Anhörung vortragen zu können. Dem trägt Abs. 2 Satz 2 (wie schon Abs. 2 Satz 1) ebenfalls Rechnung.
Rz. 103
Mitwirkungspflichten nach § 31 Abs. 1 tragen dazu bei, auch Menschen mit großen Schwierigkeiten wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen und sind deshalb auch im verfassungsrechtlichen Sinn zur Zielerreichung geeignet. Ist demgegenüber erkennbar, dass die Auferlegung von Pflichten dazu führt, dass der Kontakt zum Jobcenter ganz abbricht, also ein sog. Ausstieg aus dem System bewirkt wird oder zu befürchten ist, muss die Mitwirkungspflicht (im Einzelfall) als zur Durchsetzung legitimer Ziele nicht geeignet angesehen werden. Auf eine solche Sachverhaltskonstellation zielt Abs. 2 Satz 2 ebenfalls ab. Jedenfalls soll das persönliche Gespräch gewährleisten, dass die Betroffenen unabhängig von der regulären (schriftlichen) Rechtsfolgenbelehrung wissen, was konkret auf sie zukommt, wenn sie die Mitwirkung verweigern. Das erhöht für das BVerfG auch die Wahrscheinlichkeit, schon mit der Androhung der Leistungsminderung die Erfüllung der Mitwirkungspflicht zu fördern und trägt damit zur Eignung von Leistungsminderungen zur Durchsetzung der Mitwirkungspflicht bei. So wird eine Leistungsminderung bei derjenigen vermieden, die nicht eindeutig wissen, was von ihnen verlangt wird und was a...