2.1 Vertretung nach Abs. 1
2.1.1 Voraussetzung der Vermutungswirkung
Rz. 3
§ 38 stellt eine Konkretisierung des allgemeinen Grundsatzes dar, wonach es einem Beteiligten freisteht, sich im Verwaltungsverfahren vertreten zu lassen, obwohl eigentlich jedes einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Leistungen beantragen müsste, da es sich um Individualansprüche handelt (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 27.2.2020, L 7 AS 21212/19). Auch durch die Zugehörigkeit zur Bedarfsgemeinschaft verlieren die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nicht ihren Einzelanspruch (BGH, Beschluss v. 18.3.2020, XII ZB 213/19; Paulenz, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 38 Rz. 3). Abs. 1 Satz 1 enthält die Vermutung einer rechtsgeschäftlichen Vertretungsvollmacht für die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (Paulenz, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 38 Rz. 6; Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 11; Silbermann, in: Luik/Harich, SGB II, § 38 Rz. 12). Die widerlegbare Vermutung gilt für den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in der Bedarfsgemeinschaft. Für die Vertretungsbefugnis des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist entscheidend, dass dieser Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ist. Dies gilt nach der Rechtsprechung unabhängig davon, ob er selbst Leistungen beanspruchen kann (BSG, Urteil v. 22.8.2013, B 14 AS 78/12 R; BSG, Urteil v. 15.4.2008, B 14/7b AS 58/06 R; Valgolio, in: Hauck/Noftz, SGB II, § 38 Rz. 6; krit. dazu Kallert, a. a. O., Rz. 13, der in Anbetracht der Eindeutigkeit des Wortlauts von Abs. 1 Satz 1 – "...erwerbsfähige Leistungsberechtigte..." berechtigte Zweifel anmeldet, ob eine solche Auslegung vertretbar ist). Endet die Mitgliedschaft zur Bedarfsgemeinschaft endet auch die Vertretungsbefugnis (Paulenz, a. a. O., Rz. 6).
Rz. 4
Der Bevollmächtigte muss verfahrensfähig sein (h. M. vgl. Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 14 m. w. N.; a. A. Silbermann, in: Luik/Harich, SGB II, § 38 Rz. 14, der eine beschränkte Handlungsfähigkeit nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 für ausreichend erachtet). Ist unklar, ob überhaupt eine Bedarfsgemeinschaft vorliegt bzw. ob einzelne Personen der Bedarfsgemeinschaft angehören, liegen die Voraussetzungen nach Abs. 1 Satz 1 nicht vor (Paulenz, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 38 Rz. 11 m. w. N.; Silbermann, a. a. O., Rz. 20; Kallert, a. a. O., Rz. 16).
2.1.2 Inhalt der Vermutungswirkung
Rz. 5
Die gesetzliche Vermutung einer Bevollmächtigung bezieht sich auf die Antragstellung und Entgegennahme von Leistungen nach dem SGB II; nur insoweit gilt die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person bzw. der tatsächliche Antragsteller als vertretungsbefugt. Das Gesetz differenziert nicht nach den unterschiedlichen Leistungsarten. Insofern unterfallen der Vorschrift alle Leistungen des SGB II, also auch Eingliederungsleistungen nach den §§ 16 ff. (Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 20). Adressat der Bewilligungsbescheide für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ist deshalb der vermutet Bevollmächtigte. Dagegen sind alle sonstigen Verwaltungsakte (insbesondere Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide, Sanktions- und Aufrechnungsbescheide) nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Adressierung ausschließlich an das jeweils betroffene Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu richten (BSG, Urteil v. 4.6.2014, B 14 AS 2/13 R; Kallert, a. a. O., Rz. 29), es sei denn, eine Vertretungsbefugnis ergibt sich aus anderen Gründen (z. B. aus der gesetzlichen Vertretungsmacht der Eltern für ihre minderjährigen Kinder). Die Vertretung der Bedarfsgemeinschaft ist umfassend. Es besteht also z. B. für den Vertreter die Möglichkeit, eine Untervollmacht zu erteilen (Kallert, a. a. O., Rz. 27). Im Falle einer sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft ist insoweit entscheidend, ob der Rechtsanwalt inhaltlich Ansprüche mehrerer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft geltend macht oder nicht (vgl. BSG, Urteil v. 27.9.2011, B 4 AS 155/10 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 4.1.2010, L 19 B 316/09). Wenn das Vorbringen des Rechtsanwalts im Widerspruchsverfahren nicht nur den Individualanspruch des ihm gegenüber allein als Auftraggeber auftretenden Vertreters der Bedarfsgemeinschaft, sondern auch die Ansprüche der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zum Gegenstand hat, ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte im Zweifel davon auszugehen, dass auch die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Auftraggeber des Rechtsanwalts sind (vgl. LG Wuppertal, Beschluss v. 21.8.2019, 16 T 75/18 m. w. N.).
Rz. 6
Die Vertretungsbefugnis betrifft nicht nur die Beantragung, sondern auch die Entgegennahme von Leistungen (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 27.2.2024, L 11 AS 330/22). Adressat der Bewilligungsbescheide für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ist deshalb der vermutet Bevollmächtigte. Durch eine an den Vertreter bewirkte Leistung tritt auch hinsichtlich der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Erfüllungswirkung ein (Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 22). Etwas anderes gilt für höchstpersönliche Leistungen (z. B. Dienstleistung für einzelne Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft). Diese können nur an das jeweilige Mitglied der Be...