Rz. 12
Liegen die Voraussetzungen für die gesetzliche Vermutung nach Abs. 1 vor und sind entgegenstehende Anhaltspunkte nicht ersichtlich, bewirkt dies eine Vertretungsbefugnis. An der Stellung des einzelnen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft als Inhaber des Leistungsanspruchs und als Beteiligter des Verfahrens ändert sich dadurch nichts. Das einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft bleibt weiterhin Träger der Rechte und Pflichten nach dem SGB II. Die gesetzliche Vermutung gilt nicht, soweit die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gegenüber der Agentur für Arbeit erklären, dass sie ihre Interessen selbst wahrnehmen wollen. Die Vermutung der Vertretungsbefugnis besteht dann nicht bzw. ist dann widerlegt, wenn der vermeintlich Vertretene gegenüber dem Grundsicherungsträger ausdrücklich oder konkludent (Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 36) erklärt hat, seine Rechte selbst wahrnehmen zu wollen.
Rz. 13
Die Vermutungsregelung des Abs. 1 Satz 1 gilt nur, "soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen". Liegen entgegenstehende Anhaltspunkte vor, tritt die Vermutungswirkung nicht ein. Nach der Gesetzesbegründung kann der Grundsicherungsträger nur dann von entgegenstehenden Anhaltspunkten ausgehen, wenn Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gegenüber dem Träger der Grundsicherung erklären, ihre Interessen selbst wahrnehmen zu wollen (BT-Drs. 15/1516 S. 63). Überwiegend wird eine solch einschränkende Interpretation der "entgegenstehenden Anhaltspunkte" als für zu eng gehalten (König, in: BeckOK, SGB II, § 38 Rz. 5). So verweist z. B. König richtigerweise darauf, dass der Grundsicherungsträger relevante Anhaltspunkte auch aus anderen Informationsquellen als auch den Erklärungen anderer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erhalten könnte (König, a. a. O., z. B. aktenkundige Informationen). Nach Paulenz liegen entgegenstehende Anhaltspunkte auch in folgenden Fällen vor:
- schwerwiegende Zerwürfnisse innerhalb der Bedarfsgemeinschaft,
- beim Zusammenleben, wenn die Trennung aber bereits erfolgt ist oder unmittelbar bevorsteht,
- wenn der erwerbsfähige Leistungsberechtigte es ablehnt, die Bedarfsgemeinschaft zu vertreten,
- wenn eine Person, deren Bevollmächtigung zugunsten eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft vermutet wird, ausdrücklich eine andere Person bevollmächtigt,
- wenn der Vermutungssbevollmächtigte die entgegengenommene Leistung zweckwidrig verwendet (Paulenz, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 38 Rz. 9).
Rz. 14
Soweit objektive Anhaltspunkte vorliegen, die gegen die Bevollmächtigung sprechen, greift die Vermutungsregelung von Satz 1 nicht. Anhaltspunkte liegen z. B. vor, wenn ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft gegenüber dem Träger der Grundsicherung bereits einen anderen Vertreter eingeschaltet hat. Hierzu bedarf es jedoch einer Willenserklärung einer der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Die Erklärung bedarf keiner besonderen Form, sondern kann auch mündlich gegenüber dem Träger der Leistung mitgeteilt werden. Die Erklärung ist dabei an keine Frist gebunden. Allerdings wirkt die Erklärung erst ab dem Zeitpunkt des Zugangs bei dem Träger der Leistung. Die Vermutung greift auch dann nicht, wenn die Person, deren Bevollmächtigung zugunsten der Bedarfsgemeinschaft vermutet wird, ausdrücklich eine andere Person bevollmächtigt oder wenn sie erklärt, sie wolle nur die eigenen Interessen wahrnehmen. Das Tatbestandsmerkmal der "entgegenstehenden Anhaltspunkte" muss vom zuständigen Grundsicherungsträger von Amts wegen ermittelt werden (Paulenz, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 38 Rz. 9 m. w. N.). So kann z. B. durch das Stellen eines eigenen Antrags beim Grundsicherungsträger ein Anhaltspunkt vorliegen, der gegen die Vermutungsregelung spricht. Möglich ist auch, dass die Vertretungsbefugnis erst im Zeitablauf durch entgegenstehende Anhaltspunkte widerlegt wird. In diesem Fall bleibt die Vermutungswirkung bis zum Eintritt des Ereignisses bestehen und bis zu diesem Zeitpunkt kann der Träger der Grundsicherung mit befreiender Wirkung an den Vertreter Leistungen gewähren (Silbermann, in: Luik/Harich, SGB II, § 38 Rz. 14; Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 38).
Rz. 15
Die Vertretungsbefugnis umfasst die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, solange sie nicht selbst erwerbsfähig sind. Für diesen Fall gilt Abs. 1 Satz 2. Leben also mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt die Bevollmächtigung zugunsten desjenigen, der die Leistung beantragt. Scheidet der Bevollmächtigte aus der Bedarfsgemeinschaft aus, soll nach den internen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit der verbleibende älteste erwerbsfähige Hilfeempfänger dessen Rolle übernehmen. Etwas anderes gilt, wenn die Bedarfsgemeinschaft eine andere Bestimmung getroffen hat.