2.1 Ansprüche
Rz. 4
Die Träger von Leistungen nach dem SGB II dürfen aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit Ansprüche erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Leistungsträger sind insoweit ermächtigt, die Behandlung einer Forderung an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen und eine eigentlich mit den haushaltsrechtlichen Grundsätzen der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit nicht zu vereinbarende Entscheidung zu treffen. Unter Ansprüchen i. S. d. Vorschrift sind sowohl Schadenersatzansprüche als auch Rückzahlungsansprüche wegen zu Unrecht erhaltener Leistungen zu verstehen. Leistungen sind dabei mangels einer ausdrücklichen Begrenzung im Gesetzestext alle von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende gewährten finanziellen Hilfen (Conradis, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 44 Rz. 3). Dies gilt nicht nur für das zu Unrecht erhaltene Arbeitslosengeld II und die Mehrbedarfszuschläge, sondern auch für die Unterkunfts- und Heizungskosten. Die Art der Ansprüche ist insoweit nicht eingeschränkt, auch zivilrechtliche Ansprüche unterfallen § 44 (Merten, in: BeckOK, SGB II, § 44 Rz. 4; Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 3). Erfasst werden nicht nur Ansprüche gegenüber dem Leistungsempfänger, sondern auch gegenüber Dritten, z. B. den Erben nach § 35 oder gegenüber Beschenkten bzw. Unterhaltspflichtigen (Merten, in: BeckOK, SGB II, § 44 Rz. 4; Conradis, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 44 Rz. 3). Gleiches gilt auch für den Anspruch auf Darlehensrückzahlung (Conradis, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 44 Rz. 4). Dies gilt auch nach Einfügung des § 42a zum 1.1.2011 (Conradis, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 44 Rz. 4; Wendtland, in: Gagel, SGB II, § 44 Rz. 4a). In § 42a Abs. 2 werden nämlich Rückzahlungsansprüche aus Darlehen ab dem Monat, der auf die Auszahlung folgt, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 % des maßgeblichen Regelsatzes getilgt, ohne dass dem Grundsicherungsträger hier ein Ermessensspielraum zusteht. Eine Unbilligkeit der Aufrechnung kann daher bei der Durchführung der Aufrechnung durch den Grundsicherungsträger nicht berücksichtigt werden. Erforderlich ist, dass die Ansprüche noch bestehen (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 22.2.203, L 3 AS 32551/22; Hegelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB II, § 44 Rz. 25)
2.2 Unbilligkeit
Rz. 5
Ein Forderungserlass wegen persönlicher Unbilligkeit kommt in Betracht, wenn sich der Schuldner in einer Notlage befindet und zu besorgen ist, dass die Weiterverfolgung des Anspruchs zu einer Existenzgefährdung führt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 16.2.2022, L 2 AS 1334/21 B; LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 29.10.2020, L 6 AS 99/18). Der Erlass der Forderung ist aus persönlichen oder sachlichen Gründen möglich (allg. Meinung vgl. Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 10). § 44 eröffnet zum einen die Möglichkeit, bei den Rücknahmefolgen den besonderen persönlichen Umständen Rechnung zu tragen (BSG, Urteil v. 25.4.2018, B 14 AS 15/17 R). Zum anderen kann eine Billigkeitsmaßnahme auch dann angezeigt sein, wenn die Anwendung einer in ihrer generalisierenden Wirkung verfassungsgemäßen Regelung im Einzelfall zu Grundrechtsverstößen führen würde und solange nicht die Geltung des Gesetzes unterlaufen wird (BSG, Urteil v. 25.4.2018, B 14 AS 15/17 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 29.6.2017, L 7 AS 395/16; Merten, in: BeckOK, SGB II, § 44 Rz. 7). Dies kann dann der Fall sein, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, sie aber nach dem Zweck des zugrunde liegende Gesetzes nicht zu rechtfertigen ist und dessen Wertung zuwider läuft (Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 12). Allerdings ist es nicht Sinn und Zweck der Erlassregelung des § 44, die Folgen eines nicht eingelegten oder erfolglosen Rechtsbehelfs auszugleichen (Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 14).
Rz. 6
Bei der Frage, ob die Einziehung aus persönlichen Gründen im Einzelfall "unbillig" wäre, handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Es ist dabei auf die besonderen Umstände des Einzelfalles abzustellen. Nach der Gesetzesbegründung soll mit § 44 ein Gleichklang zu den Versicherungsleistungen nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV hergestellt werden. Fraglich ist, ob dieser Gleichklang wie bei § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV zur Folge hat, dass allein die wirtschaftliche Notlage die Annahme einer "Unbilligkeit" rechtfertigt. Im Gegensatz zu den Versicherungsleistungen werden die Leistungen nach dem SGB II nur an Hilfebedürftige gewährt. Eine wirtschaftliche Notlage ist also der Leistungsgewährung immanent. Eine Unterdeckung unter die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts allein genügt hierfür allerdings für die Annahme einer Unbilligkeit nicht, weil die in § 42a Abs. 2 und 43 vorgesehene Aufrechnung eine solche Unterdeckung gerade vorsieht (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 16.2.2022, L 2 AS 1334/21 B). Insofern müssen noch andere, von Hilfebedürftigen nicht zu vertretende Umstände gegeben sein, um die Unb...