Rz. 125
Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 beruht auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG v. 29.4.2004, der es den Mitgliedstaaten der EU erlaubt, neu einreisende Ausländer für die ersten 3 Monate des Aufenthalts von Sozialleistungen auszuschließen. Unionsbürger genießen für diese Zeit ein Aufenthaltsrecht, ohne dass dafür Aufenthaltsvoraussetzungen zu erfüllen wären (vgl. § 2 Abs. 5 FreizügG/EU a. F.). Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 schließt unterschiedslos alle Ausländer von Leistungen nach dem SGB II aus, unabhängig davon, ob es sich um Unionsbürger oder um Drittstaatsangehörige handelt (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 13.12.2022, L 3 AS 50/20, aufgehoben durch Urteil des BSG v. 18.7.2024, vgl. Rz. 133a). Die Vorschrift ist nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass Drittstaatsangehörige, die zu einem Familienangehörigen, der über eine unbefristete Niederlassungserlaubnis verfügt, nachziehen, vom 3-monatigen Leistungsausschluss ausgenommen sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Voraussetzungen zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug nach § 29 AufenthG nicht vorgelegen haben und weder ein entsprechendes Visum noch ein entsprechender Aufenthaltstitel von der Ausländerbehörde tatsächlich erteilt wurden.
Für einen Aufenthalt von mehr als 3 Monaten bedarf es eines Aufenthaltsgrundes, z. B. eines Aufenthalts als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder als Familienangehöriger eines Aufenthaltsberechtigten (§ 2 Abs. 2 FreizügG/EU). § 2 Abs. 3 FreizügG/EU betrifft die Nachwirkung der Eigenschaft als Arbeitnehmer bzw. Selbstständiger. Das Aufenthaltsrecht aus solchen Gründen ergibt sich für Unionsbürger aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 gilt nicht für Ausländer, die im Besitz eines Aufenthaltstitels zwecks Familienzusammenführung sind und zu einem deutschen Familienangehörigen nachziehen (BSG, Urteil v. 30.1.2013, B 4 AS 37/12 R).
Rz. 125a
Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 verwehrt grundsätzlich allen Ausländern und ihren Familienangehörigen für die ersten 3 Monate nach ihrer Einreise den Bezug von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende, es sei denn, sie können einen besonderen Status nachweisen. Denn die Regelung schließt nur die Personen von den Leistungen nach dem SGB II aus, die voraussetzungslos nach Deutschland einreisen und ihr Aufenthaltsrecht (als EU-Bürger) wahrnehmen. Der Leistungsausschluss greift im Ergebnis für EU-Bürger immer dann, wenn keine Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU und kein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG vorhanden ist.
Rz. 126
Nicht vom Leistungsausschluss erfasst werden Arbeitnehmer, Selbstständige und Freizügigkeitsberechtigte nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU. Arbeitnehmer im Sinne des Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 kann nur sein, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung eine Tätigkeit ausgeübt hat, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhielt, oder diese Tätigkeit noch ausübt. Dabei ist auf objektive Kriterien abzustellen.
Die wirtschaftliche Bedeutung einer selbstständigen Tätigkeit ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 5.4.2016, L 2 AS 102/16 B ER). Es genügt jedenfalls nicht, lediglich eine Anwaltszulassung und ein Büro vorweisen zu können (SG München, Beschluss v. 26.5.2017, S 46 AS 843/17 ER).
Rz. 127
Danach bleibt das Recht freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU für Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätige in folgenden Fällen unberührt:
- vorübergehende Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU), das betrifft z. B. auch eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt ihres Kindes aufgibt, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet (EuGH, Urteil v. 19.6.2014, C-507/12), nach ärztlichem Gutachten muss mit der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit gerechnet werden können,
- unfreiwillige durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Tätigkeit für 6 Monate (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 FreizügG/EU),
- unfreiwillige durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbstständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU), trifft auch auf eine betriebsbedingte, nicht einvernehmliche Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf ein unwesentliches Maß durch den Arbeitgeber eines Arbeitnehmers zu (Eintritt von Arbeitslosigkeit),
- Aufnahme einer Berufsausbildung, wenn zwischen der Ausbildung und der früheren Erwerbstätigkeit ein Zusammenhang besteht (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 HS 1 FreizügG/EU) sowie
- Aufnahme einer Berufsausbildung ohne Zusammenhang mit ...