Rz. 187
Nach der Rechtsprechung ist der Leistungsausschluss des Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 nach alter wie neuer Fassung v. 29.12.2016 allerdings einschränkend auszulegen, wenn der Leistungsberechtigte durch das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) begünstigt ist. Nach Art. 1 dieses Abkommens besteht ggf. ein Anspruch auf "Fürsorge" des ausländischen Staatsbürgers wie der eines deutschen Staatsbürgers. Als Fürsorgeleistungen sind auch die Leistungen nach dem SGB II anzusehen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 11.11.2009, L 10 AS 1801/09). Dasselbe Gericht hat entschieden, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 gemeinschaftsrechtskonform ist, soweit der Ausschluss die Leistungen nach dem SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalts betrifft (Beschluss v. 8.1.2010, L 34 AS 2082/09 B ER). Die Regelung sei auch mit dem Sinn und Zweck des Europäischen Fürsorgeabkommens vereinbar, denn ein Hilfebedürftiger, der in der Absicht einreise, Sozialleistungen zu erlangen, gehöre nicht zu dem Personenkreis, der vom Schutzbereich des Abkommens erfasst werde. Dafür genüge es, wenn sich die betreffende Person darüber zumindest bewusst gewesen sein müsse, dass sie für die nächste Zeit hilfebedürftig und auf öffentliche Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts angewiesen sei, sofern sich die Erwartung nicht erfüllt, Arbeit zu finden. Das BSG hatte geurteilt, dass es sich bei Art. 1 EFA um unmittelbar geltendes Bundesrecht handelt.
Rz. 188
Seiner Anwendbarkeit stehe weder vorrangig anzuwendendes anderes Bundesrecht noch Gemeinschaftsrecht entgegen. Zu den in Bezug genommenen Leistungen der Fürsorge gehörten neben denen des SGB XII auch diejenigen nach dem SGB II. Dass die Bundesrepublik Deutschland nur das außer Kraft getretene BSHG gegenüber dem Europarat als unter das Abkommen fallendes Fürsorgegesetz gemeldet hat, ist dagegen unerheblich. Die Bundesrepublik Deutschland sei als vertragsschließender Staat verpflichtet, die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, das vom Abkommen einbezogen wird, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen Leistungen zu gewähren (BSG, Urteil v. 20.10.2010, B 14 AS 23/10 R; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 9.5.2012, L 19 AS 794/12 B ER, aber BSG, Beschluss v. 12.12.2013, B 4 AS 9/13 R). Das EFA unterzeichnet haben Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, Türkei, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland. Ein erwerbsfähiger Ausländer hat keinen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII wegen des Fürsorgeabkommens, weil deutsche erwerbsfähige Personen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben und das Abkommen nur einen Anspruch auf Gleichbehandlung regelt (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 30.11.2017, L 31 AS 1431/16 ZVW).
Rz. 189
Mit Wirkung zum 19.12.2011 hat die Bundesregierung auf der Grundlage des Art. 16b EFA den Vorbehalt zum EFA erklärt, um damit zu gewährleisten, dass Staatsangehörige der Mitgliedstaaten nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen bleiben.
Rz. 190
Das LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil v. 20.7.2012, L 19 AS 563/12 B ER) hält den Anwendungsausschluss für wirksam. Für das LSG Berlin-Brandenburg kam es neben der Zulässigkeit des Vorbehalts auch darauf an, ob gegen den Vorbehalt der Bundesregierung Einspruch erhoben wird, im Verfahren durch Spanien, oder der Vorbehalt (ggf. stillschweigend) akzeptiert wird (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 11.3.2013, L 31 AS 318/13 B ER).
Rz. 191
Die Wirksamkeit des deutschen Vorbehaltes gegen das EFA hat das BSG nicht infrage gestellt und dem EuGH dementsprechend in seinem Vorlagebeschluss zur Rechtssache "Alimanovic" auch nicht als Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt. In seinem Urteil v. 3.12.2015 (B 4 AS 59/13, Parallelentscheidung zu BSG, Urteil v. 3.12.2015, B 4 AS 44/15) hat das BSG betont, dass der von der Bundesregierung am 19.12.2011 erklärte Vorbehalt formell und materiell wirksam sei. Nach der Entscheidung vom gleichen Tag im Verfahren 43/15 ist auch klargestellt, dass die Erklärung eine i. S. v. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X wesentliche Änderung der Verhältnisse darstellt. Damit bestehen jedenfalls seit dem 19.12.2011 keine Ansprüche nach dem SGB II mehr auf der Grundlage des EFA-Abkommens. Damit ist unabhängig davon geklärt, ob es eines Bundesgesetzes zur wirksamen Verkündung des Vorbehaltes bedurfte, jedenfalls ist die Erklärung des Vorbehaltes von Art. 16 Abs. b EFA gedeckt, insbesondere wird die Ermächtigung wegen des SGB II als neuer Rechtsvorschrift nicht überschritten, die Erklärung des Vorbehalts entspricht der Wiener Vertragsrechtskonvention und der Vorbehalt kommt einer Kündigung des EFA gleich.
Rz. 192
Einem Leistungsanspruch nach dem SGB II ohne ein anderes Aufenthaltsrecht als dasjenige zur Ar...