Rz. 222
Abs. 1 Satz 4 regelt abweichend von den vorherigen grundsätzlichen Regelungen für die von den Leistungsausschüssen nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 erfassten Personen und ihre Familienangehörigen seit dem 29.12.2016 erstmals unter bestimmten Voraussetzungen eine Anspruchsberechtigung auch auf Leistungen nach dem SGB II. Dies ist allerdings in Übereinstimmung mit den Folgen aus den Regelungen zum Daueraufenthaltsrecht erst nach 5 Jahren mit gewöhnlichem, nicht aber zwingend auch rechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet der Fall. Erst dann und damit entgegen der Rechtsprechung des BSG v. 3.12.2015 ist von einer Verfestigung des Aufenthaltes in Deutschland auszugehen (vgl. Rz. 181). Eine Verfestigung des Aufenthaltes kommt nicht in Betracht, wenn ein Unionsbürger nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU zur Ausreise verpflichtet ist, weil die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 7, § 5 Abs. 4 oder § 6 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat (Abs. 1 Satz 4 letzter HS, a. A. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 28.5.2019, L 8 SO 109/19 B ER, wonach die Ausnahme eingreifen kann, weil der Verlustfeststellung keine Tatbestandswirkung zukomme, etwa, wenn der Verlust festgestellt wurde, dagegen aber mit aufschiebender Wirkung Widerspruch erhoben wurde).
Die Rücknahme aus § 7 Abs. 1 Satz 4 HS 2, wonach ein Anspruch auf laufende Leistungen zum Lebensunterhalt der Grundsicherung für Arbeitsuchende trotz 5-jährigen gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ausgeschlossen sind, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des FreizügG/EU festgestellt wurde, kommt auch für das LSG Hessen nicht zur Anwendung, wenn der entsprechende Bescheid weder bindend noch sofort vollziehbar ist (LSG Hessen, Beschluss v. 13.6.2022, L 6 AS 196/22 B ER). Käme bereits dem schlichten Erlass der Verlustfeststellung (ausschließende) Tatbestandswirkung für den Anspruch auf Grundsicherungsleistungen zu, käme deren Gewährung auch dann nicht infrage, wenn sich die Verlustfeststellung im Rahmen ihrer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung und damit im Nachhinein als rechtswidrig erweist. Das erscheint dem LSG unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes als kaum hinnehmbar. Eine Verlustfeststellung nach dem FreizügG/EU 2004 wirkt erst ab deren Bestandskraft bzw. sofortiger Vollziehbarkeit (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 20.4.2023, L 29 AS 320/23 B ER).
Bis zum Ablauf von 5 Jahren bzw. nach Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts auch für die Zeit danach sind auch die in Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten erwerbsfähigen Ausländer und ihre Familienangehörigen damit dem Leistungssystem des SGB XII zugewiesen. Nach diesem Gesetz steht ihnen der Gesetzesbegründung zufolge aber nur ein Anspruch auf eine zeitlich beschränkte Überbrückungsleistung zu. Diese soll in erster Linie den Lebensunterhalt des Ausländers bis zur Ausreise sichern und ggf. auf Antrag die Ausreise durch eine darlehensweise Gewährung der Reisekosten ermöglichen. Den betroffenen Personen soll die Rückreise in ihr jeweiliges Heimatland nach der Gesetzesbegründung gefahrlos möglich und zumutbar sein. Dabei handelt es sich nicht nur um eine rein politische Aussage. Die Leistungsausschlüsse erfassen nämlich ausdrücklich auch Drittstaatsangehörige. Die Neuregelung berücksichtigt aber die nicht vergleichbare Situation von Unionsbürgern einerseits sowie Asylbewerbern andererseits, weil Unionsbürgern andere Möglichkeiten der Selbsthilfe offen stünden als dies für Asylbewerber der Fall ist. Das zeigt sich demnach für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG oftmals in möglicherweise drohenden Gefahren, z. B. durch Verfolgung, ohne die eine Rückkehr in das Heimatland dann nicht möglich ist, während Unionsbürger dies jederzeit gefahrlos und zumutbar tun können, sie könnten in ihren Heimatstaaten ohne Gefahr für Leib und Leben wohnen und existenzsichernde Unterstützungsleistungen erlangen, weil innerhalb der EU soziale Mindeststandards bestünden, auf die sich die Mitgliedstaaten geeinigt haben. Nach Art. 13 der Europäischen Sozialcharta v. 18.10.1961 haben sich die Vertragsparteien demnach verpflichtet, für jeden, der nicht über ausreichende Mittel verfügt und sich diese auch nicht selbst oder von anderen verschaffen kann, ausreichende Unterstützung im Heimatland zu gewährleisten. Daneben besteht für Unionsbürger uneingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt. Ist allerdings abzusehen, dass ausländische erwerbsfähige Personen ohne materielles Freizügigkeits- oder Aufenthaltsrecht dauerhaft oder jedenfalls für einen längeren Zeitraum in Deutschland verbleiben werden und damit eine Verfestigung des Aufenthaltes eintritt, soll für sie bei Vorliegen von Erwerbsfähigkeit nach 5 Jahren uneingeschränkt das Leistungsrecht des SGB II und damit auch der Grundsatz des Förderns und Forderns gelten. Der Aufenthalt in Deutschland in dieser Zeit muss nicht zwingend durchgehend rechtmäßig gewesen sein, was als fraglich angesehen werden muss (so aber auch LSG Hessen, Beschluss v. 10.7.2018, L 9 AS...