2.1 Einordnung der Vorschrift und allgemeine Voraussetzungen
Rz. 3
Die Vorschrift regelt Grundsicherungsansprüche entgegen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2. Danach sind Personen von der Anspruchsberechtigung auf Grundsicherungsleistungen ausgenommen, die als Ausländer oder als dessen Familienangehöriger entweder weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland, oder ohne Aufenthaltsrecht sind bzw. lediglich ein Aufenthaltsrecht allein zum Zwecke der Arbeitsuche haben.
Der Zuschnitt der Vorschrift hat zudem zur Folge, dass es auf den gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland wegen der Gültigkeit von EU-Recht zumindest zunächst nicht ankommt und die geflüchteten Personen auch dann als erwerbsfähig anzusehen sind, wenn sie eine Beschäftigung weder aufnehmen dürfen noch aufnehmen dürften.
Rz. 4
Neben den aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen sind in jedem Einzelfall die übrigen Leistungsvoraussetzungen sowie der Zeitpunkt der Antragstellung i. S. v. § 37 zu prüfen. Abs. 1 Satz 2 stellt klar, dass auf den von § 74 erfassten Personenkreis die in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und in § 8 Abs. 2 normierten Voraussetzungen keine Anwendung finden. Zweck der Gesetzesänderung ist die Gewährleistung einer möglichst frühzeitigen Arbeitsmarktintegration des von § 24 AufenthG erfassten Personenkreises durch die Grundsicherungsleistungsträger des SGB II, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur Arbeitsmarktintegration aus einer Hand gewähren. Mit dem Bezug von Bürgergeld sind die Leistungsberechtigten zugleich als Pflichtversicherte in die gesetzliche Krankenversicherung und in die soziale Pflegeversicherung einbezogen (vgl. BT-Drs. 20/1768).
Die Regelungen zur Ortsabwesenheit (ab 1.7.2023 § 7b) gelten uneingeschränkt (vgl. auch BT-Drs. 20/2445).
Abs. 5 enthält eine Übergangsregelung für die Zeit bis 31.8.2022. Die Regelung ist ausgelaufen.
2.2 Erkennungsdienstliche Behandlung
Rz. 5
Das Erfordernis einer erkennungsdienstlichen Behandlung betrifft ein Grundbedürfnis des Staates, Informationen darüber zu haben, wer sich in Deutschland unter welcher Identität aufhält. Angaben zu Alter, Identität und Staatsangehörigkeit sind daher bereits grundsätzlich für jeden Ausländer in § 49 Abs. 2 AufenthG vorgeschrieben, entsprechende Angaben sind verpflichtend, wenn z. B. ein Aufenthaltstitel erteilt werden soll (hier nach § 24 Abs. 1 AufenthG).
Die Voraussetzung der "erkennungsdienstlichen Behandlung" in Abs. 1 ist ein anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal, nicht nur eine Ordnungsvorschrift. Eine nicht erkennungsdienstlich behandelte Person, die sich zunächst nach § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV und danach nach § 81 Abs. 3 AufenthG rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, aber anfänglich mangels Antrags auf einen Aufenthaltstitel und danach wegen eines die Erwerbstätigkeit ausdrücklich nicht gestattenden Vermerks in der Fiktionsbescheinigung nicht die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 erfüllt, hat nach 3 Monaten des Aufenthalts einen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe auf der Grundlage von § 23 Abs. 1 SGB XII (LSG Hessen, Beschluss v. 2.11.2022, L 4 SO 124/22 B ER).
Rz. 6
Die Identität eines Ausländers ist zwingend durch erkennungsdienstliche Maßnahmen zu sichern, wenn eine Verteilung gemäß § 15a stattfindet (vgl. § 49 Abs. 4 AufenthG), wie das bei dem in § 74 vorrangig in Rede stehenden Personenkreis der ukrainischen geflüchteten Menschen der Fall ist. Zusammen mit § 74 in das SGB II ist zusätzlich ein § 49 Abs. 4a in das AufenthG eingefügt worden, der vorschreibt, dass die Identität eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG beantragt und der das 14. Lebensjahr vollendet hat, vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis durch erkennungsdienstliche Maßnahmen zu sichern ist. Eine Ausnahme bilden die Kinder aus diesem Personenkreis im Alter von 6 bis 13 Jahren, bei ihnen gilt das Soll-Prinzip.
Rz. 7
§ 81 Abs. 7 AufenthG sichert den Anspruch des Staates ab und bestimmt dazu, dass in Fällen, in denen die Identität durch erkennungsdienstliche Behandlung gemäß § 49 AufenthG (oder § 16 AsylG) zu sichern ist, eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG nur ausgestellt oder ein Aufenthaltstitel nur erteilt werden darf, wenn die erkennungsdienstliche Behandlung (tatsächlich) durchgeführt worden ist und eine Speicherung der hierdurch gewonnenen Daten im Ausländerzentralregister vorgenommen wurde, die erkennungsdienstliche Behandlung also tatsächlich stattgefunden hat und die gewonnenen Daten gesichert und verfügbar gemacht wurden. Dadurch können die Jobcenter in diesen Fällen die erkennungsdienstliche Behandlung unterstellen.
Rz. 8
Im Regelfall des Abs. 1 gilt der Aufenthalt des Ausländers bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt, wenn er sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, und die Erteilung eines Aufenthaltstitels beantragt. Ab Antragstellung gilt die Abschiebung als ausgesetzt. ...