2.1 Verhältnis ordentliche Kündigung zur außerordentlichen Kündigung nach § 130 SGB IX und § 61 SGB X i. V. m. BGB
Rz. 6
§ 130 regelt und präzisiert ausschließlich ein außerordentliches Kündigungsrecht der Träger der Eingliederungshilfe. Da es sich bei den Vereinbarungen nach §§ 123 ff. um öffentlich-rechtliche Verträge handelt (vgl. Komm. zu§ 123 Rz. 20), kommen über § 61 Satz 2 SGB X ergänzend die Regelungen des BGB zur Anwendung (§ 626 BGB), die auch dem Leistungserbringer offen stehen. Das außerordentliche Kündigungsrecht der Träger der Eingliederungshilfe regelt § 130 abschließend (§ 61 Satz 1 SGB X). Allerdings kann auch eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 58 Abs. 1 Satz 2 SGB X i. V. m. § 123 BGB) in Betracht kommen (vgl. SG Potsdam, Urteil v. 6.1.2014, S 20 SO 183/10, Rz. 20, juris).
Eine ordentliche Kündigung, in Vereinbarungen zu regeln, bleibt neben einer außerordentlichen Kündigung nach den allgemeinen Regelungen möglich (Neumann, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 78 Rz. 10; Freudenberg, in: Jung, SGB XII, § 78 Rz. 2a; a. A. Jaritz/Eicher, in: jurisPK-SGB XII, § 78 Rz. 46). Eine entsprechende ausdrückliche Regelung (wohl auch für in der Laufzeit unbegrenzte Vereinbarungen vorgesehen), wie vom Bundesrat eingefordert, wurde im Gesetzgebungsverfahren nicht umgesetzt (vgl. Stellungnahme des BR zum Entwurf des BTHG, 18/9954 S. 50 f.). Im Übrigen muss bei einem fortdauernden Sozialverwaltungsvertragsverhältnis unabhängig von Vertragsregelungen die Möglichkeit der (ordentlichen) Vertragsbeendigung gegeben sein (BVerwG, Urteil v. 29.12.2000, 5 B 171/99, Rz. 6, RsDE (2002) Nr. 50 S. 78, 79; offen gelassen von BSG, Urteil v. 7.10.2015, B 8 SO 1/14 R, SGb 2017 S. 104, 106 mit Anm. Gottlieb, SGb 2017 S. 104, 109; auch Kunte, RsDE (2009) Nr. 68 S. 55). Das SG Düsseldorf (Urteil v. 30.5.2012, S 2 KA 462/11, juris) präzisiert diesen Grundsatz, wonach – soweit die Vertragsparteien ein ordentliches Kündigungsrecht weder geregelt noch ausgeschlossen haben – über § 61 Satz 2 SGB X die zivilrechtlichen Kündigungsbestimmungen, insbesondere der § 624 BGB (Kündigungsfrist bei Verträgen über mehr als 5 Jahre), entsprechend anwendbar sind (vgl. dazu BGH, Urteil v. 28.2.1972, III ZR 212/70, NJW 1972 S. 1128, und Urteil v. 25.5.1993, X ZR 79/92, NJW-RR 1993 S. 1460). Diesen Regelungen ist der Grundgedanke zu entnehmen, dass bei Bemessung der Kündigungsfrist die Auswirkung auf den Vertragspartner angemessen beurteilt und berücksichtigt werden muss. Insbesondere bei Dauerschuldverhältnissen ist hierbei eine allerdings lange Kündigungsfrist anzunehmen. Kritisch zum Recht auf eine ordentliche Kündigung sind Jaritz/Eicher, wonach ein Recht zur ordentlichen Kündigung einer Vereinbarung den Vertragsparteien nur zu stehe, wenn es vertraglich geregelt oder Laufzeiten festgelegt sei (Jaritz/Eicher, in: jurisPK-SGB XII, § 78 Rz. 46). Andererseits räumen Jaritz/Eicher ein, dass entsprechend des allgemeinen Rechtsgrundsatzes in § 626 BGB auch bei einer unbefristet vereinbarten Vertragsbeziehung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist diese Vertragsbeziehung beendet werden könne (Jaritz/Eicher, in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 80 Rz. 11).
2.2 Verhältnis zu § 59 SGB X (Satz 4)
Rz. 7
Satz 4 ordnet die entsprechende Anwendung von § 59 SGB X an. § 59 Abs. 1 Satz 1 SGB X regelt für den Fall wesentlicher Änderungen der maßgeblichen Geschäftsgrundlage der Vereinbarungen die Anpassung des Vertrages an und eröffnet für den Fall, dass eine Anpassung nicht möglich ist, die Kündigung des Vertrages im besonderen Fall. Es handelt sich insoweit um einen gesetzlich geregelten Fall des Instituts des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (vgl. Neumann, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 78 Rz. 9). Dieses Recht gilt sowohl für die Träger der Eingliederungshilfe als auch für die Leistungserbringer.
Zusätzlich erhält der Träger der Eingliederungshilfe nach § 59 Abs. 1 Satz 2 SGB X die Möglichkeit einer Kündigung des Vertrages im besonderen Fall, wenn schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen sind. Hier können Pflichtverletzungen, die außerhalb der unmittelbaren Vertragsbeziehung liegen, in Betracht kommen, z. B. fortgesetzte Verstöße gegen tarifliche Vereinbarungen oder gegen die Bestimmungen zum Mindestlohn zulasten der Mitarbeiter des Leistungserbringers (vgl. Rz. 11).
2.3 Verfahrensvoraussetzungen – Schriftform (Satz 3)
Rz. 8
Bei der außerordentlichen Kündigung handelt es sich nach überwiegender Ansicht und der Rechtsprechung um eine einseitige, empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung (Freudenberg, in: Jung, SGB XII, § 78 Rz. 10; Flint, in: Grube/Wahrendorf/Flint, 5. Aufl. 2014, SGB XII, § 78 Rz. 10; Jaritz/Eicher, in: jurisPK-SGB XII, § 78 Rz. 31; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 2.9.2011, L 23 SO 147/11 B, Rz. 88, Sozialrecht aktuell 2011 S. 229; VG Schleswig-Holstein, Urteil v. 26.5.2003, 10 B 102/03, Rz. 19, NordÖR 2003 S. 326; VG München, Urteil v. 26.4.1990, M 15 K 90.576, RsDE (1991) Nr. 13 S. 87, 91). Der Ansicht, dass die außerordentliche Kündigung als Verwaltungsakt zu werten sei (Neumann, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 78 Rz. 5, und Schellhorn, in: Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, 18. Aufl....