2.1 Überblick
Rz. 3
Die Teilhabeziele des § 4 orientieren sich jeweils an den individuellen Teilhabebedarfen des Betroffenen. Wegen des gegliederten sozialen Systems unterteilt § 4 Abs. 1 die Teilhabeleistungen nach unterschiedlichen Zielsetzungen.
Das Ziel der Sicherung des Unterhalts wird in § 4 jedoch nicht angesprochen, obwohl der Leistungsrahmen des SGB IX auch hierfür Leistungen vorsieht (vgl. §§ 65 ff.). Es handelt sich hierbei um ein ergänzendes Ziel zu dem eigentlichen Hauptziel.
2.2 Begriff der Leistungen zur Teilhabe
Rz. 4
In Anlehnung an das "Partizipationsmodell" der Weltgesundheitsorganisation (WHO; vgl. Komm. zu § 2 SGB IX) ist das zentrale Ziel des SGB IX, die gleichberechtigte Teilhabe auch für Menschen mit Behinderung bzw. drohender Behinderung zu erreichen. Die Teilhabe bedeutet nach einer Definition der WHO aus dem Jahr 2001 das "Einbezogen sein in eine Lebenssituation". Als Lebenssituation sind u. a. Elemente wie
- ein selbstbestimmtes Leben einschließlich der Sicherstellung der eigenen Versorgung (Hygiene, Anziehen, Essen usw.),
- das Nachgehen einer beruflichen Tätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie
- das Teilnehmen an kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen (einschließlich Kommunikation über den eigenen Familienkreis hinaus)
gemeint. Diese Möglichkeit zur Partizipation muss so gestaltet sein, dass die gesundheitlichen Barrieren, die die Behinderung eines Menschen mit sich bringt, mit Hilfen (Leistungen) möglichst überwunden werden. In diesem Zusammenhang besteht für die Rehabilitationsträger gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX i. V. m. Art. 26 BRK die Pflicht, wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen,
- ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie
- die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens
zu erreichen und zu bewahren. Nach dem Prinzip der "Inklusion" soll der behinderte Mensch im Rahmen seiner "gesundheitlichen" Ressourcen sein Leben führen und am Leben teilnehmen wie ein gesunder Mensch. Das Lebensalter spielt dabei keine Rolle. Ein 90-jähriger Mensch, der an sich noch gesund ist, aber im 5. Stock eines Wohnhauses lebt und aufgrund seines Alters wegen der vielen Treppen seine Wohnung nicht mehr verlassen kann, gilt als leistungsberechtigter Mensch, weil ihn Barrieren (hier die vielen Stufen) daran hindern, seinen Alltag zu meistern und am Leben in der Gemeinschaft teil zu nehmen. Für ihn sind deshalb individuell Teilhabeleistungen nach § 4 notwendig, um die individuellen gesundheitlichen Barrieren zu beseitigen (Möglichkeiten: z. B. finanzielle Hilfen zum Umzug in eine barrierefrei Wohnung, Bezuschussung bei Einbau eines Aufzuges oder Aktivierung der körperlichen Fähigkeiten zur Herstellung der Mobilität).
2.3 Begriff der notwendigen Sozialleistungen
Rz. 5
§ 4 verknüpft das "soziale Recht" behinderter Menschen auf Sozialleistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft mit den Ansprüchen, die im SGB IX sowie in den für die einzelnen Rehabilitationsträger geltenden besonderen Vorschriften geregelt sind.
Die Leistungen zur Teilhabe umfassen nach dem Gesetzeswortlaut die notwendigen Sozialleistungen zur Teilhabe. Bei den "notwendigen Sozialleistungen" i. S. v. § 4 Abs. 1 handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, welcher der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe handelt es sich um das Ergebnis eines kooperativen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Betroffenen, welcher in Grenzfällen nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält.
Die Entscheidung für die Lösung muss fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich dabei darauf zu beschränken,
- ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden,
- ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und
- ob die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt wurden
(vgl. BVerwG, Urteil v. 24.6.1999, 5 C 24/98).
Das Vorliegen eines unbestimmten Rechtsbegriffs genügt nicht, um von einem Beurteilungsspielraum auszugehen. Es spricht indes nichts dafür, dass der Gesetzgeber durch den Begriff der "notwendigen Sozialleistungen" in § 4 Abs. 1 der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum einräumen wollte (vgl. SG Osnabrück, Urteil v. 3.11.2011, S 5 SO 97/11).
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, bis zu welchem Grad der Zielerreichung die Rehabilitationsträger die Teilhabeleistungen "notwendig zu finanzieren" haben. Muss also z. B. ein beinamputierter Mensch von den Rehabilitationsträgern immer sofort die neueste und beste auf dem Markt befindliche Beinprothese finanziert erhalten? Ist von den Rehabilitationsträgern immer der höchste Leistungsaufwand zu betreiben, um eine soziale Gleichstellung mit einem gesunden Menschen zu erreichen? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist zu unterscheiden zwischen
- Leistungen zur medizinisc...