Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Erstattungsbescheid. Widerspruch. Einhaltung der Widerspruchsfrist bei unvollständiger Rechtsbehelfsbelehrung. Ersetzung der Schriftform durch elektronisches Dokument mit qualifizierter elektronischer Signatur. Eröffnung des Zugangs zum elektronischen Rechtsverkehr. unwirksame Beschränkung auf das besondere Postfach für bevollmächtigte Rechtsanwälte

 

Orientierungssatz

1. Ist die Rechtsbehelfsbelehrung in einem Bescheid unvollständig, da nicht vollständig und zutreffend über die Möglichkeit belehrt wird, den Rechtsbehelf elektronisch einzulegen, so ist der zwar nicht innerhalb eines Monats, aber innerhalb der Jahresfrist nach § 66 Abs 2 SGG erhobene Widerspruch fristgerecht eingelegt.

2. Nach § 36a Abs 1 SGB 1 ist die Übermittlung elektronischer Dokumente zulässig, soweit der Empfänger - hier der Grundsicherungsträger - hierfür einen Zugang eröffnet hat. Spätestens mit der Aufnahme der Behördenadresse in das Adressverzeichnis des elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) zeigt sich die Behörde für die Nutzung der digitalen Kommunikation empfangsbereit, ohne dass hierfür ein aktives Tun erforderlich wäre. Dass die Behörde subjektiv nur mit bestimmten Institutionen und nicht mit Naturparteien kommunizieren wollte, ist unerheblich.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 22. April 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegner erstattet die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller auch für das Beschwerdeverfahren.

 

Gründe

I.

Streitig ist die Feststellung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen Erstattungsbescheide in Gestalt des Widerspruchsbescheides und in diesem Kontext die Frist für die Erhebung des Widerspruchs.

Der Antragsgegner nimmt seit dem 15. Januar 2018 am elektronischen Rechtsverkehr mittels elektronischem Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) teil, die Behördenadresse ist in dem EGVP-Verzeichnis gelistet. Eine Möglichkeit zum Empfang von E-Mails mit elektronischer Signatur (De-Mail) besteht nicht.

Mit Bescheiden vom 21. Oktober 2020 bei endgültiger Festsetzung forderte der Antragsgegner von den Antragstellern die Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von insgesamt 1.878.27 €. Der Bescheid enthält als Briefkopf die Behördenbezeichnung und neben der Durchwahl und Telefaxnummer des Antragsgegners eine E-Mail-Adresse (Jobcenter-Kiel.team210@jobcenter-ge.de). Dem Bescheid ist die folgende Rechtsmittelbelehrung angefügt:

„Gegen diesen Bescheid kann jeder Betroffene oder ein von ihm bevollmächtigter Dritter innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch erheben. Für minderjährige oder nicht geschäftsfähige Personen handelt deren gesetzlicher Vertreter. Der Widerspruch ist schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle einzulegen.

Soweit der Widerspruch durch eine/n Bevollmächtigte Rechtsanwältin

/Rechtsanwalt eingelegt wird, kann diese/r zur wirksamen Ersetzung der Schriftform den Widerspruch als elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, auch über das besondere Anwaltspostfach (beA), übermitteln.“

Am 28. Dezember 2020 erhob die anwaltliche Bevollmächtigte der Antragsteller Widerspruch gegen die Bescheide vom 21. Oktober 2020. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 2021 wies der Antragsgegner den Widerspruch wegen Verfristung als unzulässig zurück. Die dagegen am 22. Februar 2021 erhobene Klage ist beim Sozialgericht Kiel unter dem Aktenzeichen S 31 AS 47/21 anhängig.

Auf einen entsprechenden Eilantrag hat das Sozialgericht Kiel mit Beschluss vom 22. April 2021 festgestellt, dass die am 22. Februar 2021 erhobene Klage gegen die Erstattungsbescheide vom 21. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2021 aufschiebende Wirkung hat. Der Widerspruch sei zwar nicht innerhalb eines Monats nach Zugang der Bescheide erhoben worden. Die Rechtsbehelfsbelehrung in den Bescheiden des Antragstellers sei jedoch unvollständig, da nicht vollständig und zutreffend über die Möglichkeit, den Rechtsbehelf elektronisch einzulegen, belehrt worden sei. Aufgrund dieser Unrichtigkeit sei der nach § 66 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) binnen Jahresfrist erhobene Widerspruch fristgerecht eingelegt worden.

Dagegen wendet sich der Antragsgegner mit seiner am 26. April 2021 erhobenen Beschwerde. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts gelte vorliegend nicht die Jahresfrist. Dies habe zur Folge, dass die Widersprüche hier nicht fristgerecht erhoben worden seien. Die Rechtsbehelfsbelehrung habe zutreffend und vollständig informiert. Sie entspreche § 36 a Abs. 1 SGB I, denn aktuell könne ein Widerspruch zur wirksamen Ersetzung der Schriftform als elektronisches Dokument mit qualifizierte elektronische Signatur nur über das besondere Anwaltspostfach (beA) an den Antragsgegner übermittelt werden. Das Jobcenter Kiel verfüge über kei...

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