Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Analogleistung. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Inanspruchnahme eines offenen Kirchenasyls bis zum Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nach Dublin-Verfahren. abschlägige Härtefallprüfung
Leitsatz (amtlich)
1. Begeben sich Ausländer in ein offenes Kirchenasyl, um auf diese Weise das Verstreichen der sechsmonatigen Überstellungsfrist nach der Dublin-III-Verordnung (juris: EUV 604/2013) zu bewirken (dolus directus ersten Grades), liegt darin regelmäßig eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer iS des § 2 Abs 1 S 1 AsylbLG.
2. Dass die Ausländerbehörde das Kirchenasyl respektiert und währenddessen keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vollzieht, steht der Rechtsmissbräuchlichkeit des Handelns der Zufluchtsuchenden nicht prinzipiell entgegen.
3. Zwischen den Kirchen und dem BAMF getroffene Vereinbarungen zu Zielen und Modalitäten des offenen Kirchenasyls vermögen für sich genommen die Rechtsmissbräuchlichkeit des Handelns allenfalls so lange auszuschließen, wie sich die Zufluchtsuchenden innerhalb des durch die Vereinbarungen vorgegebenen Rahmens bewegen.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Januar 2021 dahingehend geändert, dass der Antrag der Antragstellerin zu 1. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wird.
Außergerichtliche Kosten sind der Antragstellerin zu 1. für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Der Antragstellerin zu 1. wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt und Rechtsanwalt …. als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Beschwerdeverfahren noch darüber, ob die Antragstellerin zu 1. vorläufig die Zahlung von Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verlangen kann.
Die 1982 geborene Antragstellerin zu 1. ist marokkanische Staatsangehörige. Nachdem sie in der Vergangenheit bereits aus Deutschland abgeschoben und mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot belegt worden war, reiste sie letztmalig am 18. März 2019 mit ihren beiden 2007 und 2009 geborenen Kindern - den Antragstellern zu 2. und 3. - erneut in das Bundesgebiet ein und hält sich seither im Bundesgebiet auf. Den am 4. April 2019 gestellten (weiteren) Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 24. April 2019 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Frankreich an.
Nach erfolgloser Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht (Az. 5 B 28/19), welches mit Beschluss vom 12. Juni 2019 beendet worden war, begaben sich die Antragsteller am 28. Juni 2019 aus der Erstaufnahmeeinrichtung N... in Räumlichkeiten der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde G..., die dem BAMF und der damals zuständigen Ausländerbehörde (Landesamt für Ausländerangelegenheiten) die Gewährung von Kirchenasyl und eine Adresse mitteilte, unter der die Familie während des Kirchenasyls zu erreichen sei. Ein Härtefalldossier werde erstellt.
Mit Schreiben vom 4. Juli 2019 forderte das BAMF die Kirchengemeinde dazu auf, das Härtefalldossier bis zum 28. Juli 2019 einzureichen. Das Dossier wurde am 18. Juli 2019 eingereicht. Das BAMF gelangte bei der Prüfung des Dossiers zu der Einschätzung, dass keine besonderen individuellen Härten vorgetragen worden seien, die gegen die beabsichtigte Überstellung nach Frankreich sprächen. Die Antragsteller verblieben daraufhin im Kirchenasyl.
Am 19. Februar 2020 ersuchten die Antragsteller erneut um einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 5. März 2020 (zum Az. 5 B 19/20) gab das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das BAMF, auf, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig bis zu einer Entscheidung im Verfahren zum Az. 5 A 80/20 eine Abschiebung der Antragsteller aufgrund der Abschiebungsanordnung vom 24. April 2019 nicht erfolgen dürfe, weil die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 VO (EU) Nr. 604/2013 (so genannte Dublin-III-Verordnung) abgelaufen sei und eine Verlängerung dieser Frist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) Nr. 604/2013 mangels Flüchtigkeit der Antragsteller nicht in Betracht komme.
Unter dem 20. Mai 2020 wurde der Antragstellerin zu 1. eine Duldung erteilt, die aktuell bis zum 21. Mai 2021 befristet ist. Im Juni 2020 erfolgte die Zuweisung der Antragsteller zum Antragsgegner, der mit Bescheid vom 15. Juni 2020 die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG aufnahm.
Mit Bescheid vom 10. November 2020 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen nach § 3 AsylbLG für den Zeitraum 1. bis 31. Dezember 2020 in Höhe von 1.515,00 EUR. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bewilligungsbescheid Bezug genommen.
Dagegen erhoben die Antragsteller am 9. Dezember 2020 Widerspruch und verlangten die Gewährung von Analogleistungen nach §...