Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Analogleistung. Anspruchseinschränkung. Gewährung und Fortbestehen internationalen Schutzes durch einen anderen Staat. teleologische Reduktion. pflichtwidriges Verhalten des Leistungsberechtigten. Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland. offenes Asylverfahren. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs 4 S 2 AsylbLG ist bei teleologischer Auslegung nur zulässig, wenn die Rückkehr in den anderen Mitgliedsstaat der EU, der internationalen Schutz gewährt, zumutbar bzw der Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland pflichtwidrig ist.
2. Ist eine Entscheidung im Asylverfahren noch nicht rechtskräftig, kann der leistungsberechtigten Person der Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig nicht mit der Folge einer Leistungskürzung vorgeworfen werden.
3. Der Verbleib im Bundesgebiet bis zur Rechtskraft der Entscheidung im Asylverfahren stellt keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung des Aufenthaltes im Sinne von § 2 Abs 1 S 1 AsylbLG dar.
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 11. Mai 2020 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Der Antrag der Antragsteller auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung der Rechtsanwältin ..., ..., wird abgelehnt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren über die Rechtmäßigkeit einer Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Die Antragsteller zu 1. und 2. sowie deren minderjährige Kinder, die Antragsteller zu 3. bis 7., sind afghanische Staatsangehörige. Sie reisten am 12. Februar 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurden mit Bescheid des Landesamtes für Ausländerangelegenheiten vom 9. April 2018 dem Antragsgegner zugewiesen.
Auf am 26. Februar 2018 gestellten Antrag bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern mit Bescheid vom 20. April 2018 Leistungen nach dem AsylbLG.
Den Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 15. März 2018 als unzulässig ab mit Hinweis darauf, dass ihnen bereits in Griechenland ein Schutzstatus zuerkannt worden war. Das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wurde verneint. Die dagegen erhobene Klage (... A .../18) wurde mit Urteil vom 16. April 2019 abgewiesen. Über die von den Antragstellern beantragte Zulassung der Berufung (... LA .../19) liegt eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts noch nicht vor; einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (... B .../18) wurde nach zunächst erfolgter Ablehnung stattgegeben.
Im Juni 2019 teilte die Zuwanderungsabteilung dem Antragsgegner mit, dass die Antragsteller bereits über eine Asylanerkennung in Griechenland verfügen und deshalb die Asylanträge als unzulässig abgelehnt worden seien.
Nach Vortrag des Antragsgegners hörte er die Antragsteller mit Schreiben vom 26. Juni 2019 und vom 5. Februar 2020 zur beabsichtigten Kürzung der Leistungen nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG an, auf die die Antragsteller nicht reagierten.
Mit Bescheid vom 17. Februar 2020 wurde die weitere Kürzung der Leistungen nach § 1a AsylbLG ab 1. März 2020 mitgeteilt.
Hiergegen erhoben die Antragsteller am 26. Februar 2020 Widerspruch. Es bestehe Anspruch auf ungekürzte Leistungen nach § 2 AsylbLG. Ihr Aufenthalt sei nicht rechtsmissbräuchlich. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts liege ein Rechtsmissbrauch nur dann vor, wenn den Leistungsbeziehern ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen wäre, das im kausalen Zusammenhang mit dem Nichtvollzug der Aufenthaltsbeendigung stünde. Ein solches Verhalten könne ihnen - den Antragstellern - nicht vorgeworfen werden. Liege jedoch kein pflichtwidriges Verhalten vor, könne auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten unterstellt werden.
Insbesondere in der Zeit der Corona-Pandemie komme eine Ausreise nach Griechenland nicht in Betracht, da dort ausweislich unzähliger Berichte eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte nicht nur möglich, sondern überwiegend wahrscheinlich sei.
Nach erfolglos gebliebenem Widerspruch haben die Antragsteller am 27. März 2020 gegen den Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2020 bei dem Sozialgericht Kiel Klage erhoben (S 22 AY 21/20).
Mit Bescheid vom 4. März 2020 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern zu 1. und 2. einmalige Hilfen für Schwangerschaftsbekleidung und Erstausstattung auf Antrag und Mitteilung einer voraussichtlichen Geburt am 25. Mai 2020.
Aufgrund der Weisungslage im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gewährt der Antragsgegner allen Antragstellern Leistungen nach § 3 AsylbLG (Bescheid vom 3. April 2020).
Dem am 20. April 2020 beim Sozialgericht Kiel gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gericht...