Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
Die Regelungen in § 77 Abs 2 S 1 Nr 3, S 2 und 3 SGB 6 über die Absenkung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gilt auch für Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen werden (Entgegen BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3).
Orientierungssatz
Die mit § 77 Abs 2 S 1 Nr 3, S 2 und 3 SGB 6 geregelte Absenkung des Zugangsfaktors begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 26. April 2007 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0.
Der ... 1953 geborenen Klägerin wurde von der Beklagten in Ausführung eines gerichtlichen Vergleichs mit Bescheid vom 12. Dezember 2005 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Oktober 2003 bewilligt. Der Berechnung der Rentenhöhe legt die Beklagte einen Zugangsfaktor von 0,898 zugrunde. Mit Bescheid vom 15. März 2006 bewilligte die Beklagte der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Februar 2006 bis zum 31. Januar 2009 unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 0,892.
Am 22. Juni 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Neufeststellung der Rente und machte geltend, dass ihr höhere Leistungen unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 zustünden. Zur Begründung bezog sie sich auf ein Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R).
Mit Bescheid vom 21. Dezember 2006 und Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 2007 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Entgegen der Auffassung, die der 4. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 16. Mai 2006 vertreten habe, sei der Zugangsfaktor bei Renten wegen Erwerbsminderung auch bei Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI zu vermindern. Die Höhe des Abschlags betrage grundsätzlich 10,8 %. Der Prozentsatz bei Rentenbeginn vor dem 1. Januar 2004 ergebe sich aus § 264c SGB VI in Verbindung mit Anlage 23 zum SGB VI. Wortlaut, Sinn und Entstehungsgeschichte der Vorschrift sprächen für die Auslegung der Rentenversicherungsträger und gegen die Auslegung des 4. Senats des Bundessozialgerichts.
Dagegen hat sich die Klägerin mit der am 15. Februar 2007 bei dem Sozialgericht Lübeck erhobenen Klage gewandt, zu deren Begründung sie weiterhin auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R) Bezug nimmt.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Februar 2007 zu verurteilen, die Bescheide vom 12. Dezember 2005 und 15. März 2006 dahin abzuändern, dass ihr unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Rentenbeginn eine höhere Rente gewährt wird.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat sie auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide Bezug genommen.
Mit Urteil vom 26. April 2007 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und sich in der Begründung der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R) angeschlossen. Ergänzend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass es sich auch der Auslegung des Deutschen Gewerkschaftsbundes anschließe, der zu Recht ausführe, dass es bei Erwerbsminderungsrenten geradezu zynisch wäre, den Eintritt des Leistungsfalles vor dem 60. Lebensjahr mit einem “vorzeitigen„ Rentenbezug zu vergleichen. Die Erwerbsminderung trete völlig unabhängig vom Willen der Versicherten ein. Diese hätten im Gegensatz zu den Altersrentnern keine Wahlmöglichkeit, ob sie bis zum Erreichen der Regelaltersrente weiterarbeiten oder eine vorzeitige Rente in Anspruch nehmen möchten. Plagemann führe zu Recht an, dass man auch mit dem Bundessozialgericht aus sozialstaatlicher Sicht argumentieren könnte, dass eine Rente wegen Erwerbsminderung vor dem 60. Lebensjahr gerade nicht die gleiche Funktion habe wie eine Erwerbsminderungsrente danach. Es könnte zwar zutreffen, dass der Gesetzgeber einen verminderten Zugangsfaktor auch für die Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 60. Lebensjahr habe einführen wollen. Die Ausgestaltung, die der Gesetzgeber dazu - unterstellt, er habe eine solche Regelung beabsichtigt - gewählt habe, erfülle nicht die Anforderungen, die an eine solche Regelung zu stellen seien. Eine Kürzung der Erwerbsminderungsrente entgegen dem Systemgrundsatz der (vor-) leistungsbezogenen Rente erfordere eine ausdrückliche und klar ausgestaltete Regelung. Der Gesetzgeber habe stattdessen e...