Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozeßvergleich. Widerrufsfrist. Wiedereinsetzung
Orientierungssatz
1. Die Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag kann mit der gerichtlichen Entscheidung in der Sache verbundenen werden.
2. Wird ein Prozeßvergleich unter Widerrufsvorbehalt geschlossen, so kann in der rechtzeitigen Erklärung des Widerrufs eine auflösende Bedingung oder in der Nichtausübung des Widerrufsrechts innerhalb der vereinbarten Frist eine aufschiebende Bedingung des Vergleichsschlusses gesehen werden; was im Einzelfall vereinbart wurde, ist Auslegungssache.
3. Auch Prozeßhandlungen sind in Anwendung der § in 133, 157 BGB enthaltenen Grundsätze auszulegen. Nach diesen Maßstäben ist auch bei der vereinbarten Widerrufsfrist der wirkliche Wille der Beteiligten maßgeblich; auf den buchstäblichen Sinn des Ausdrucks kommt es dabei nicht entscheidend an (hier Jahreszahl des bereits abgelaufenen Kalenderjahres).
4. Die Frist zum Widerruf eines Prozeßvergleichs ist keine gesetzliche Verfahrensfrist iS von § 67 SGG, sondern eine vertraglich frei zu vereinbarende Frist, bei der eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob das Klageverfahren durch Vergleich beendet worden ist.
Mit Bescheid vom 2. März 1993 hob die Beklagte den Bescheid vom 30. Oktober 1990 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 1. März 1992 bis 17. Oktober 1992 auf und nahm den Bescheid vom 14. November 1992 über die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 29. Oktober 1992 bis 2. Dezember 1992 zurück, nachdem der am 3. Februar 1932 geborene Kläger seit dem 1. März 1992 einen Anspruch auf Altersruhegeld hatte, der aus Sicht der Beklagten zum Ruhen des Alg-Anspruchs führte (§ 118 des Arbeitsförderungsgesetzes -- AFG --). Gleichzeitig forderte die Beklagte Leistungen in Höhe von 6.787,21 DM gemäß § 50 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) von dem Kläger zurück. Den gegen den Bescheid vom 2. März 1993 eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 1993 als unbegründet zurück.
Der Kläger hat am 16. September 1993 bei dem Sozialgericht Lübeck gegen den Bescheid vom 2. März 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. August 1993 Klage erhoben.
Im Verhandlungstermin des Sozialgerichts vom 5. Juli 1995 haben die Beteiligten einen Widerrufsvergleich geschlossen. Danach erkannte der Kläger die Rückzahlungsforderung in Höhe von 6.787,21 DM an und verpflichtete sich, auf diese Forderung monatlich 150,-- DM, beginnend mit dem 1. September 1995, zu leisten. Die Beklagte nahm dieses Angebot an. In Ziffer 3 des Vergleichs heißt es (in der ursprünglichen Fassung der Verhandlungsniederschrift):
Der Kläger behält sich den Widerruf dieses Vergleichs durch Erklärung gegenüber dem Gericht bis zum 17. Juli 1994 vor.
Im dem Verhandlungstermin vom 5. Juli 1995 war der Kläger nicht durch seine Prozeßbevollmächtigte, sondern durch einen weiteren Bevollmächtigten vertreten. Diesem ist eine Ausfertigung des Protokolls vom 5. Juli 1995 am 12. Juli 1995 zugestellt worden.
Mit einem ausweislich des Eingangsstempels am 19. Juli 1995 bei dem Sozialgericht Lübeck eingegangenen Schriftsatz seiner Prozeßbevollmächtigten widerrief der Kläger den am 5. Juli 1995 geschlossenen Vergleich.
Mit Beschluß vom 11. September 1995 -- der Prozeßbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 15. September 1995 -- berichtigte das Sozialgericht die Niederschrift über den Verhandlungstermin vom 5. Juli 1995 unter Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit dahingehend, daß in dem protokollierten Widerrufsvorbehalt die Jahreszahl "1994" durch die Jahreszahl "1995" ersetzt wurde.
Der vom Sozialgericht geäußerten Auffassung, daß der Rechtsstreit wegen verspäteten Eingangs der Widerrufserklärung erledigt sein dürfte, hat der Kläger widersprochen. Gleichzeitig hat er für den Fall der Versäumnis der Widerrufsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Zur Begründung hat der Kläger geltend gemacht: Die Verhandlungsniederschrift sei seiner Prozeßbevollmächtigten erst am 14. Juli 1995 zugegangen. Noch am selben Tag sei der Widerruf dort abgegangen. Eine schnellere Bearbeitung sei nicht möglich gewesen. Die Befristung sei allerdings auch nicht ordnungsgemäß erfolgt. Zum einen lasse das Protokoll nicht erkennen, daß die rechtzeitige Absendung des Widerrufs nicht genügen sollte. Zum anderen sei gar keine ausreichende Widerrufsfrist gesetzt worden. Dies belege auch der Berichtigungsbeschluß des Sozialgerichts. Eine etwaige Verzögerung auf dem Postweg könne dem Kläger nicht angelastet werden. Er habe im übrigen am 17. Juli 1995 die Widerrufserklärung noch einmal an das Sozialgericht faxen wollen. Dies sei jedoch wegen einer Störung des Faxgerätes des Gerichts am Abend des 17. Juli 1995 nicht gelungen.
Die Beklagte hat sich im erstinstanzlichen Verfahren zur Frage der Wirksamkeit des Vergleichs nicht geäußert.
Nachdem das Sozialgericht zunächst mit Ver...