Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Richtgrößenprüfung. Einzelfallprüfung. Unzulässigkeit doppelter Regressfestsetzungen wegen Arzneimittelverordnungen derselben Quartale

 

Orientierungssatz

Eine Regressfestsetzung einer gemeinsamen Prüfungsstelle der Vertragsärzte und Krankenkassen ist trotz gegebener Voraussetzungen für einen Regress wegen der Verordnungen von Arznei- und Heilmitteln als rechtswidrig anzusehen, wenn die Prüfungsstelle wegen der Arzneimittelverordnungen derselben Quartale Wirtschaftlichkeitsprüfungen in Form von Einzelprüfungen vorgenommen und dabei Regresse festgesetzt hat, die sich jedenfalls zum Teil mit einem Regress im Rahmen einer Richtgrößenprüfung überschneidet, ohne dass gewährleistet ist, dass der Vertragsarzt nicht wegen der doppelten Regressfestsetzung doppelt in Anspruch genommen wird.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 11.09.2019; Aktenzeichen B 6 KA 15/18 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 10. September 2014 und der Bescheid vom 19. Mai 2011 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 849.039,72 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Regress wegen der Arzneimittelverordnungen der Klägerin im Jahr 2007, den der Beklagte im Wege der Richtgrößenprüfung festgesetzt hatte.

Die Klägerin ist eine seit dem Quartal I/2007 bestehende überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft zweier Orthopäden. Ihr Mitglied Dr. Z... war von 2002 bis September 2007 im Rahmen einer Sonderbedarfszulassung für orthopädische Rheumatologie mit der Zusatzbezeichnung für Osteologie tätig, vor Gründung der Klägerin in einer Einzelpraxis.

Die Prüfungsstelle der Vertragsärzte und Krankenkassen in Schleswig-Holstein (Prüfungsstelle) teilte der Klägerin mit Schreiben vom 8. September 2009 mit, dass ihre Verordnungen von Arznei- und Verbandmitteln im Jahr 2007 das Richtgrößenvolumen um 603,86 % überschritten habe. Sie bat hierzu um Stellungnahme. Die Klägerin rügte den Umfang des Verordnungsvolumens, das Auswahlverfahren für die Richtgrößenprüfung, die verspätete Festlegung der Richtgrößen, die Zuordnung der Verordnungsdaten und angesichts erfolgter Einzelfallprüfungen für das Jahr 2007 die Durchführung von Doppelprüfungen. Ferner machte sie die Behandlungen von Rheuma- und Osteoporosepatienten als Praxisbesonderheiten geltend. Die Prüfungsstelle bot der Klägerin am 16. November 2009 eine individuelle Richtgrößenvereinbarung für Arznei- und Verbandmittel an (Mitglieder: 10,22 €, Familienangehörige: 3,92 €, Rentner: 19,11 €). Das Angebot nahm die Klägerin nicht an. Mit Bescheid vom 14. Dezember 2009 setzte die Prüfungsstelle für den Mehraufwand an Verordnungen einen Regress in Höhe von 1.117.102,58 € netto fest. Für die Quartale des Jahres 2007 wurden daneben Einzelfallprüfungen wegen der Arzneimittelverordnungen durchgeführt.

Dagegen legte die Klägerin am 17. Dezember 2009 Widerspruch ein. Sie verwies darauf, dass die Richtgrößenprüfung für das Jahr 2006 gegenüber Dr. Z... keine Unwirtschaftlichkeit der Arzneimittelverordnungen ergeben habe. Die mehrfache Überprüfung derselben Quartale auf unwirtschaftliche Verordnungen sei unzulässig. Sie machte die Behandlung von Rheumapatienten mit TNF-Alpha-Inhibitoren und die Behandlung von Osteoporosepatienten mit dem Medikament Forsteo als Praxisbesonderheiten geltend. Hierzu machte sie Ausführungen zu der Anwendung der Medikamente. Insbesondere bei den TNF-alpha-Inhibitoren handle es sich um eine neue Arzneimittelgruppe, die auf molekularbiologischer Grundlage unter Nutzung der Gentechnologie hergestellt werde. Sie stellten seither eine wichtige Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten bei chronisch-entzündlichen Gelenkerkrankungen dar.

Mit Bescheid vom 19. Mai 2011 reduzierte der Beklagte den Regress auf 849.039,72 €. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, die Aufgreifkriterien für eine Richtgrößenprüfung seien erfüllt. Der Praxisschwerpunkt Rheumatologie der Klägerin könne nur bedingt als Praxisbesonderheit anerkannt werden. Dr. Z... habe Patienten mit rheumatischen Erkrankungen regelmäßig mit den Medikamenten Humira (Wirkstoff Adalimimab) und Enbrel (Wirkstoff Etanercept) behandelt. Dies seien außergewöhnlich teure TNF-alpha-Inhibitoren, deren wirtschaftlicher Einsatz nach den Therapieempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) oder nach den Therapiehinweisen gemäß den Arzneimittel-Richtlinien an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft sei. Gemäß Anlage 3 zur Richtgrößenvereinbarung 2006 dürften sie nur fallbezogen und indikationsabhängig und nur unter der Voraussetzung als Praxisbesonderheit berücksichtigt werden, dass zuvor die bei der Prüfungsstelle eingerichtete paritätisch besetzte Zweitmeinungskommission den zulassungskonformen und indikationsgerechten Einsatz dieser Wirkstoffe geprüft und bestätigt habe. Zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Prüfung sei für kei...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge