Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

Die Kammer folgt nicht der Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3, wonach Erwerbsminderungsrentner, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Rentenabschlägen nur unterliegen, wenn sie Rente über das 60. Lebensjahr hinaus beziehen.

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin erstrebt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X eine höhere Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Beklagte bewilligte der am 00.00.1955 geborenen Klägerin mit Bescheiden vom 30.01.2002, 16.09.2002 und 15.09.2003 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab 01.03.2001. Für die Rentenberechnung verminderte sie den Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat nach dem 31.03.2018 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003, mithin für drei Kalendermonate um 0,009. Sie multiplizierte die persönlichen Entgeltpunkte von 30,7916 mit 0,991 und legte der Rentenberechnung persönliche Entgeltpunkte in Höhe von 30,5145 zugrunde.

Am 23.06.2006 beantragte die Klägerin unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R - eine Überprüfung der Rentenhöhe.

Mit Bescheiden vom 12.12.2006, 03.01.2007 und Widerspruchsbescheid vom 23.02.2007 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Hinsichtlich der Begründung wird auf die Ausführungen in den Bescheiden verwiesen.

Hiergegen richtet sich die am 16.03.2007 erhobene Klage. Die Beteiligten wiederholen und vertiefen ihr bisheriges Vorbringen.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich:

"zu erkennen, dass die Gewährung der Rente wegen Erwerbsminderung mit Rentenabschlägen im Hinblick auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05) rechtswidrig ist. Ich beantrage daher die Auszahlung der Rente ohne Abschlag. "

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist nicht rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rücknahme der Bewilligungsbescheide und Auszahlung einer höheren Rente.

Die Bewilligungsbescheide sind nicht rechtswidrig im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB X. Die Beklagte hat den Zugangsfaktor unter Zugrundelegung von §§ 77, 264 c SGB VI zutreffend berechnet.

Die Klägerin kann sich insoweit nicht mit Erfolg auf die abweichende Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R - berufen. Allerdings entspricht die Entscheidung der Beklagten nicht diesem Urteil, wonach Erwerbsminderungsrentner, die - wie die Klägerin - bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Rentenabschlägen nur unterliegen, wenn sie Rente über das 60. Lebensjahr hinaus beziehen. Das BSG interpretiert die für die Berechnung des Zugangsfaktors maßgebende Vorschrift des § 77 SGB VI entsprechend: Gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI ist der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahrs in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gilt gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme. Nach der Rechtsprechung des 4. Senates des BSG seien Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres vom Gesetz gerade nicht als Zeiten eines "vorzeitigen Rentenbezuges" bestimmt. Allein eine derartige Interpretation sei verfassungsgemäß. Die Verminderung des Zugangsfaktors durchbreche das "Prinzip der Vorleistungsbezogenheit der Rente". Dieses Prinzip werde technisch im Gesetz dadurch verwirklicht, dass der Zugangsfaktor grundsätzlich als Faktor 1,0 anzusetzen und damit rechnerisch ohne Bedeutung für Rentenberechnung sei. Jede Durchbrechung des Prinzips der Vorleistungsbezogenheit der Rente bedürfe der ausdrücklichen Bestimmung durch ein verfassungsgemäßes Gesetz. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die Erwerbsminderungsrente "vorzeitig" in Anspruch genommen wird, könne ohne verfassungswidrige Willkür eine Nichtbeachtung der Vorleistung, die der Versicherte für die Rentenversicherung erbracht hat, in Betracht kommen. N...

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