Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Bemessung eines Grades der Behinderung bei einer Sehbehinderung. Bedeutung der Visuswerte für die Bemessung des Grades der Behinderung. Anerkennung einer Sehbehinderung bei Fehlen einer entsprechenden morphologischen Erkrankung. Annahme einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse bei einer erfolgten Neufestsetzung eines Grades der Behinderung
Orientierungssatz
1. Bei der Bemessung des Grades der Behinderung bei einem Augenleiden, das Auswirkungen auf die Visuswerte hat, kommt den Werten für den Nahvisus dieselbe Bedeutung zu wie den Werten für den Fernvisus.
2. Eine ermittelte Sehstörung kann auch ausnahmsweise dann Grundlage für die Bemessung eines Grades der Behinderung sein, wenn sich zwar eine zur Intensität der ermittelten Sehstörung passende morphologische beziehungsweise organpathologische Erkrankung des Auges nicht feststellen lässt, jedoch aus anderen Gründen eine Beeinträchtigung der Sehfähigkeit im Vollbeweis nachweisbar ist (hier: psychogene Sehstörung).
3. Wurde ein Grad der Behinderung durch einen Bescheid neu festgesetzt, so handelt es sich dabei regelmäßig um eine Neufeststellung unter Berücksichtigung der verschiedenen im Bescheidzeitpunkt vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen und nicht nur um eine Fortschreibung. Dabei wurde mit der Neufeststellung zugleich durch die Behörde festgestellt, dass ein Änderungsbedarf aufgrund einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse bestand.
Nachgehend
Tenor
Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 17.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 verpflichtet, bei der Klägerin für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.09.2016 einen GdB von 50 und für die Zeit danach einen GdB von 70 festzustellen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitgegenständlich ist die Bewertung des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin aufgrund einer Verschlechterung einer Funktionsstörung der Augen.
Bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 22.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2013 einen GdB von 30 fest. Dem lagen eine versorgungsärztlich letztlich mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete Sehstörung und deren mit einem weiteren Einzel-GdB von 20 bewertete Auswirkungen (eingeschränktes funktionales Sehen - individueller Umgang mit dem Sehvermögen in alltäglichen Situationen, im schulischen Bereich, psychische Beeinträchtigungen, Hilfsmittelversorgung und sonderpädagogische Förderung) zugrunde. Ein anschließendes Klageverfahren vor dem Sozialgericht Aachen (Az. S 3 285/13) auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines höheren GdB verlief erfolglos. In der mündlichen Verhandlung am 17.12.2014 wurde Klage auf Hinweis des seinerzeitigen Vorsitzenden der 3. Kammer zurückgenommen.
Mit Änderungsantrag vom 16.09.2015 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB. Zur Begründung führte sie ihre Sehbehinderung mit der Diagnose Okulokutaner Albinismus, einer Akkomodationsschwäche, hohen Einschränkungen des funktionalen Sehens, hoher Blendempfindlichkeit und einem Fernvisus von 0,2/0,25 sowie einem Nahvisus vom 0,006/0,1 an. Beigefügt wurde ein Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. (aus 07/2015).
Auf versorgungsärztliche Einschätzung der Sehminderung mit einem Einzel-GdB von 40 und visueller Wahrnehmungsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 stellte die Beklagte unter Aufhebung ihrer Feststellung vom 28.01.2013 mit Bescheid vom 17.11.2015 ab Antragstellung einen GdB von 40 fest.
Hiergegen legte die Klägerin am 02.12.2015 Widerspruch ein. Durch ihre Bevollmächtigten ließ sie zur Begründung ausführen, allein der sich aus dem Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. ergebende Fernvisus entspreche bereits einem GdB von 40. Unter Berücksichtigung der weiteren im Änderungsantrag dargestellten Beeinträchtigungen sei ein GdB von mindestens 70 sachgerecht, da die Einschränkungen tatsächlich den Nahvisuswerten entsprächen.
Nach weiterer versorgungsärztlicher Stellungnahme wies die Bezirksregierung N. den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2016 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin durch ihre Bevollmächtigten am 23.05.2016 unter Bezugnahme auf die Widerspruchsbegründung Klage erhoben und einen Arztbrief des Universitätsklinikums T. (aus 11/2016) vorgelegt.
Das Gericht hat Befundberichte des Kinderarztes Dr. L., u. a. mit einem weiteren Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T. (aus 04/2014) und einen Arztbrief des Prof. Dr. L. (Klinik für Augenheilkunde der Uniklinik T. aus 09/2016) eingeholt.
Weiter hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Augenarztes Prof. Dr. Q. (Universitäts- Augenklinik N.) vom 01.03.2017. Der Sachverständige hat einen organisch unauffälligen Befund erhoben. Selbst die Diagnose eines Okulokuta...