Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag
Orientierungssatz
Auch Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch genommen werden, sind mit einem Abschlag zu versehen (Entgegen BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = SozR 4-2600 § 77 Nr 3; Anschluss an SG Aachen vom 9.2.2007 - S 8 R 96/06 und SG Aachen vom 20.3.2007 - S 13 R 76/06).
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist der Klägerin im Wege einer Zugunstenentscheidung rückwirkend und mit Wirkung für die Zukunft abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente (Zugangsfaktor 1,0) zu zahlen.
In Ausführung eines gerichtlichen Vergleichs vom 07.02.2006 bewilligte die Beklagte der 1959 geborenen Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.05.2006 bis 30.04.2009. Bei der Berechnung des monatlichen Zahlbetrages legte die Beklagte einen um 10,8 %-Punkte geminderten Zugangsfaktor zugrunde.
Am 18.09.2006 beantragte die Klägerin die rückwirkende Neuberechnung der Rente auf der Basis eines Zugangsfaktors in Höhe von 1,0. Zur Begründung verwies sie auf das Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R).
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14.12.2006 ab und wies den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Bescheid vom 16.01.2007 als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen für eine Zugunstenentscheidung seien nicht erfüllt. Die Gremien der Rentenversicherungsträger hätten sich in der Sitzung des zuständigen Fachausschusses am 26.09.2006 geeinigt, dem BSG-Urteil über den Einzelfall hinaus nicht zu folgen. Die Rechtsanwendung durch die Beklagte entspreche sowohl dem Wortlaut des Gesetzes wie auch dem gesetzgeberischen Willen.
Hiergegen hat die Klägerin am 22.01.2007 Klage erhoben. Sie hält die Entscheidung des 4. Senats des BSG für schlüssig und überzeugend und leitet daraus ihren Anspruch auf eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente für die Zeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres im Wege einer Zugunstenentscheidung ab.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14.12.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2007 zu verpflichten, den Bescheid vom 10.03.2006 zurückzunehmen und ihr rückwirkend ab Rentenbeginn Erwerbsminderungsrente ohne Abschlag, also mit Zugangsfaktor 1,0 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist weiterhin der Überzeugung, dass ihre bisherige Rechtsanwendung zutreffend sei. Die vom BSG favorisierte Auslegung sei nicht schlüssig und beraube die vom Gesetzgeber geschaffene Regelung ihres Inhalts.
Die Beteiligten haben übereinstimmend eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren beantragt.
Beigezogen waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Sie waren ebenso wie die Gerichtsakte Gegenstand der Entscheidung. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Unterlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 87, 90, 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht sowie auch im Übrigen zulässig erhobene Klage ist nicht begründet. Die Kammer konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil beide Beteiligte dies beantragt haben (§ 124 SGG).
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Sie ist nicht verpflichtet der Klägerin im Wege einer Zugunstenentscheidung gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) rückwirkend und laufend (höhere) Erwerbsminderungsrente unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu zahlen.
I.
Nach § 44 SGB X ist ein Verwaltungsakt, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Die Beklagte hat bei Erlass des Bescheides vom 10.03.2006 das Recht nicht unrichtig angewandt und der Klägerin gegenüber nicht zu Unrecht Sozialleistungen nicht erbracht. Im Zentrum der Betrachtung steht § 77 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (EM- ReformG) vom 20. Dezember 2000. Die Vorschrift regelt in Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, dass der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird um 0,003 niedriger als 1,0 ist. Weiter heißt es in der Vorschrift, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt (Satz 2) und dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt (Satz 3).
Übertragen auf den Rentenanspruch der Klägerin bedeutet...