Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie. Betreuung über Tag und Nacht. Vermeidung des Aufenthalts in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Betreuung über Tag und Nacht iS des § 54 Abs 3 SGB 12 liegt nicht nur bei einem 24 Stunden andauernden dauerhaften Aufenthalt in einer Pflegefamilie ohne Verlassen des Hauses vor, sondern auch bei nicht behinderten Menschen vergleichbaren auch längeren Abwesenheiten in der Freizeit oder Schulzeit.

2. Im Regelfall wird bei jedweder geistiger oder körperlicher Behinderung die vollstationäre Aufnahme in eine Einrichtung der Behindertenhilfe durch die Aufnahme in die Pflegefamilie iS des § 54 Abs 3 SGB 12 vermieden.

 

Tenor

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 9.011,34 € für die Kosten der Hilfe für F. vom 05.08.2009 bis 10.04.2010 zu zahlen.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert wird auf 9.011,34 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Tragung der Kosten der Vollzeitpflege des Herrn F., geboren G. 1992, für die Zeit seiner Unterbringung bei Pflegeeltern bis zur Volljährigkeit. In der Sache besteht Streit über die Kosten für die Zeit vom 05.09.2009 bis 10.04.2010 in Höhe von insgesamt 9.011,34 Euro. Der Kläger hatte als Träger der Jugendhilfe diese Leistungen gem. §§ 27, 33 des Achten Buche des Sozialgesetzbuches - Jugendhilfe (SGB VIII) erbracht.

F. befand sich seit dem 14.04.1994 in einer Pflegefamilie in H. im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Klägers. Vor der Inpflegegabe lebte der Junge bei seiner leiblichen Mutter in I., im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Vom 14.04.1994 bis zum 10.04.2010 erbrachte der Kläger als Träger der Jugendhilfe diese Leistungen.

Auf Antrag vom 02.12.1993 wurde mit gerichtlichem Beschluss vom 28.01.1994 dem Stadtjugendamt I. das Sorgerecht für F. übertragen. Das Wohl des Kindes, insbesondere das geistige und seelische Wohl, sei aufgrund der mangelnden Erziehungsfähigkeit sowie aufgrund der fehlenden Bereitschaft und Fähigkeit der Kindeseltern zur Gefahrenabwehr akut gefährdet. Infolge dieser Entscheidung wurde F. in seine zumindest bis zum Jahre 2010 bestehende Pflegefamilie in H., im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Klägers, gegeben.

Mit Schreiben vom 28.10.1997 beantragten die Pflegeeltern eine Erstausstattung für F. und begründeten diesen Antrag damit, dass er ein Kind mit Entwicklungsrückständen am Rande einer geistigen Behinderung sei. Insbesondere zeige er unkontrolliertes und zerstörerisches Verhalten, wodurch viele Kleidungsstücke nach kurzer Zeit unbrauchbar seien sowie sein Bettzeug zerstört sei. Aus einem Vermerk in der Akte des Klägers vom 09.07.1998 ist dann ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt weiterhin die gleichen Verhaltensdefizite bestanden. Zu dieser Zeit lief ausweislich des Vermerks eine Überprüfung, ob bei F. eine geistige Behinderung vorliegt. Er war für den Besuch des heilpädagogischen Kindergartens der Lebenshilfe J. vorgemerkt. Eine ganztägige Betreuung war erforderlich, weil F. sein aggressives Verhalten gegen andere Kinder sowie gegen Gegenstände und Sachen richtete. Aus einem weiteren Vermerk vom 10.05.2005 ist erkennbar, dass auch zu diesem Zeitpunkt keine Besserung der Situation bestand. Weiterhin führte sein unbändiger Bewegungsdrang dazu, dass er immer noch einen erheblichen Verschleiß an Bekleidung und anderen Gebrauchsgegenständen hatte. Zu Hause war er nur deswegen tragbar, weil die Pflegeeltern ihn ständig unter Kontrolle hielten. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch positiv vermerkt, dass F. emotional in der Pflegefamilie integriert war, so dass zu dieser Zeit Überlegungen, ihn in einer Einrichtung betreuen zu lassen nicht angestellt wurden. Mit zunehmendem Alter wurde über eine Betreuung im Werkstattbereich der Lebenshilfe nachgedacht. F. sei in seinem Verhalten so auffällig, dass eine auch wie auch immer geartete Ausbildung undenkbar erscheine. In der Folge stellte der Kläger die Hilfe in sozialpädagogische Pflegehilfe um.

Nach fortgesetztem Verhalten in oben beschriebener Art gab eine Amtsärztin des Klägers am 21.10.2008 eine Einschätzung ab, dass der Junge aufgrund seiner leichtgradigen intellektuellen Retardierung in Verbindung mit Verhaltensstörungen zum Personenkreis des § 53 des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches - Sozialhilfe (SGB XII) gehöre.

In dieser Stellungnahme wird von Verhaltensauffälligkeiten im Detail berichtet, so war F. durch die Gruppenstärke im Regelkindergarten überfordert. Im heilpädagogischen Kindergarten der Lebenshilfe in J. besserte sich die Situation etwas. Nach einem Versuch der Beschulung in einer Regelgrundschule kam es zu einer Umschulung in die Schule für geistige Entwicklung in K. In der Schule reagierte F. weiterhin auf Überforderungssituationen mit Schreien, Weinen und aggressiven Störungen. Im lebenspraktischen Bereich benötigte F. ständig Anleitung und Aufsicht bei der Kleidung und hygienisc...

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