Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Akteneinsicht. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Anzeigeschreiben über Sozialbetrug eines Informanten. Offenlegung einer ungeschwärzten Ausfertigung des Schreibens mit handschriftlicher Unterschrift. Interessenabwägung zugunsten des Leistungsberechtigten

 

Orientierungssatz

Ein überwiegendes Interesse eines Leistungsempfängers an der Feststellung der Identität eines Behördeninformanten ist dann in Betracht zu ziehen, wenn ausreichende Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, dass der Informant wider besseren Wissens und in der vorgefassten Absicht, den Ruf des Betroffenen zu schädigen, gehandelt hat oder leichtfertig falsche Informationen übermittelt hat (vgl BVerwG vom 4.9.2003 - 5 C 48/02 = BVerwGE 119, 11).

 

Tenor

1. Der Bescheid vom 30. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juni 2020 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ungeschwärzte Akteneinsicht in das bei ihm am 5. Oktober 2017 eingegangene Schreiben eines unbekannten Absenders vom 30. September 2017 einschließlich womöglicher Anlagen sowie des womöglich in der Akte enthaltenen Briefumschlags zu gewähren.

3. Der Beklagte hat der Klägerin deren Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die vollständige Einsicht in das Schreiben eines anonym aufgetretenen Behördeninformanten.

Die 1963 geborene Klägerin steht seit Jahren im Leistungsbezug des Beklagten. Unter anderem bewilligte ihr der Beklagte mit Bescheid vom 30. August 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für Oktober 2016 bis September 2017 und mit Bescheid vom 30. August 2017 für Oktober 2017 bis September 2018. Nachdem der Beklagte erfahren hatte, dass die Klägerin nach der Beendigung einer Beschäftigung ab April 2016 ALG bezog, rechnete er dieses rückwirkend als Einkommen an. Gegen die Höhe der Einkommensanrechnung wandte die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 18. Juli 2017 unter anderem ein, eine KFZ-Versicherung bedienen zu müssen. Auf den diesbezüglich am 24. November 2017 ergangenen Widerspruch erhob die Klägerin vor dem Sozialgericht Berlin Klage (S 103 AS 16122/17), die im September 2021 ihre Erledigung fand.

Am 5. Oktober 2017 ging bei dem Beklagten ein auf den 30. September 2017 datiertes mit Maschine bzw. Computer geschriebenes Schreiben eines unbekannten Behördeninformanten ein. Unter der Überschrift „Sozialbetrug!“ und dem Betreff „Frau A. K., … Berlin, … (ca. 51 Jahre)!“ führte der Absender aus:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich/wir bitten Sie, folgenden Sachverhalt einmal genauer zu betrachten:

Ein Herr H. K. (Vater), wohnhaft in … Berlin, L. Allee …, ist Februar/März 2017 verstorben. Die Tochter Frau A. K. fährt jetzt einen fast neuen Opel aus der Erbmasse als Sozialhilfe- oder Hartz IV Empfängerin. Das Fahrzeug benötigt Frau K., um zu ihren div. Putzstellen (Schwarzarbeit) zu gelangen. Außerdem muss durch den Verkauf eines kleinen Häuschens der Eltern ein Barvermögen nach dem Tod ihres Vaters geerbt worden sein. Der verstorbene Vater hat außerdem eine Eigentumswohnung an seine Frau und Tochter hinterlassen.

Für mich ist es langsam nicht mehr nachvollziehbar, wie diese Frau als Sozialschmarotzerin alles vom Staat bezahlt bekommt und wohl jede Arbeitsstelle umgeht. Übrigens verkündet sie schon wieder, dass sie jedes Jobcenter austricksen kann!!!

Für mich/uns ist diese Frau eine Sozialschmarotzerin und wir bitten Sie, hier einmal eine genaue Überprüfung einzuleiten.

Ich/ wir bitten Sie, falls Sie hier nicht der richtige Ansprechpartner sein sollten, diese Information an die richtige Stelle weiterzuleiten.

Mit freundlichen Grüßen

X Y“

Neben die beiden maschinengeschriebenen Buchstaben „X Y“ war eine unleserliche handschriftliche Unterschrift gesetzt.

Im Februar 2019 nahm der Beklagte dieses Schreiben zum Anlass, die Bewilligung des Fortzahlungsantrags vom 26. November 2018 zunächst zurückzustellen und weitere Ermittlungen einzuleiten. Insbesondere sollte die Klägerin zur behaupteten Erbschaft Stellung nehmen.

In dem sich daraus entwickelnden Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes bei dem Sozialgericht Berlin (S 103 AS 1010/19 ER) übersandte der Beklagte dem Gericht am 15. Februar 2020 als Anlage zu seiner Stellungnahme auch das anonyme Hinweisschreiben. Die handschriftliche Unterschrift hatte er durch Abdeckung geschwärzt, während das sonstige Schreiben vollständig übermittelt wurde. Über das Gericht erhielt auch die Klägerin diese geschwärzte Fassung des Schreibens.

Im Rahmen des gerichtlichen ER-Verfahrens wies die Klägerin nach, dass zwar ihr Vater tatsächlich am 4. Februar 2017 gestorben war, aufgrund eines sogenannten Berliner Testaments aber allein ihre Mutter geerbt hatte. Einen Opel und einen Ford ihres Vaters, so ihr Vortrag, habe sie schon zu dessen Lebzeiten und auch danach nutzen dürfen. Die entsprechenden KFZ-Versicherungen liefen auf ihren Namen. Mit Bescheid vom 14. März 2019 bewilligte der Beklagte der Klägerin daraufhin Leistungen.

Am 1...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge