Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirtschaftlichkeitsprüfung. Arzneikostenregress. Verordnung eines Arzneimittels im Rahmen des Off-Label-Use. Erforderlichkeit eines Vorverfahrens als Klagevoraussetzung. gleichzeitige Einlegung des Widerspruchs durch Klage. Verlängerung der Klagefrist durch fehlerhafte oder unvollständige zusätzliche Angaben

 

Orientierungssatz

1. Der mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG -) eingeführte Ausschluss des Vorverfahrens in bestimmten Konstellationen (§ 106 Abs 5 S 8 SGB 5) ist in den Fällen, in denen die medizinischen Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen und für die Entscheidung ausschlaggebend sind (wie zum Beispiel im Falle der Zulässigkeit eines Off-Label-Use), nicht einschlägig. Hier ist es weiterhin sachgerecht, dass der aufgrund seiner Besetzung mit Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigung (typischerweise Vertragsärzte) und der Krankenkassen (§ 106 Abs 4 S 2 SGB 5) mit besonderer medizinischer Fachkunde ausgestattete Beschwerdeausschuss im Rahmen des Vorverfahrens die Entscheidung der Prüfungsstelle überprüft.

2. In der Klage ist zugleich die Einlegung des Widerspruchs zu sehen (vgl BSG vom 22.6.1966 - 3 RK 64/62 = BSGE 25, 66, BSG vom 20.7.1966 - 6 RKa 9/65 = BSGE 25, 120, BSG vom 16.3.1967 - 6 RKa 22/66 = BSGE 26, 174). Dies gilt auch für das besondere Vorverfahren im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung.

3. Fehlerhafte oder unvollständige zusätzliche Angaben verlängern die Klagefrist nur, wenn sie nach Lage der Dinge abstrakt Einfluss auf eine verspätete oder formwidrige Einlegung des Rechtsbehelfs gehabt haben können.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 11.05.2011; Aktenzeichen B 6 KA 13/10 R)

 

Tenor

83KA635898KA65108/71Urteilpc2135Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese jeweils selbst tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen einen Regress wegen der Verordnung des Medikaments Cellcept® im Quartal II/2005.

Die Klägerin ist Trägerin des Universitätsklinikums …. - Universitätsmedizin B. Sie ist zugleich Trägerin der fortgeführten und damit gesetzlich gemäß § 311 Abs. 2 SGB V zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Fachambulanz für Nephrologie mit Dispensaire-Auftrag. In der Fachambulanz behandelte sie im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung die bei der Beigeladenen zu 2) gesetzlich krankenversicherte Patientin M K, die an Wegenerscher Granulomathose mit Nierenbeteiligung litt. Am 10. Juni 2006 verordnete sie auf Kassenrezept das Medikament CellCept® (Wirkstoff Mycophenolatmofetil), das arzneimittelrechtlich in Kombination mit Ciclosporin und Corticosteroiden zur Prophylaxe von akuten Transplantatabstoßungsreaktionen bei Patienten mit allogener Nieren-, Herz- oder Lebertransplantation zugelassen ist. Eine Zulassung bei Wegenerscher Granulomathose besteht nicht.

Wegen der genannten Verordnung beantragte die Beigeladene zu 2) mit Schreiben vom 9. März 2006 beim damaligen Prüfungsausschuss für die Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung im Land Berlin die Festsetzung eines Regresses in Höhe von 458,09 €. Nach schriftlicher Anhörung der Klägerin beriet der Prüfungsausschuss in seiner Sitzung vom 11. Januar 2007 den Regressantrag, vertagte die Entscheidung jedoch. Eine Entscheidung traf der Prüfungsausschuss nicht mehr.

Mit Beschluss vom 5. September 2008 (schriftlicher Bescheid ausgefertigt am 31. Oktober 2008, zugestellt per Einschreiben vom selben Tage) setzte die Beklagte zu 1) wegen der Verordnung einen Regress in Höhe von 458,09 € fest. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass die Verordnung von Cellcept zulassungsüberschreitend erfolgt sei. Zulassungsüberschreitende Verordnungen seien nur in begründeten Fällen eines so genannten Off-Label-Use von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst (Wirtschaftlichkeitsgebot §§ 2, 12 SGB V). Diese Anforderung knüpfe regelmäßig an die arzneimittelrechtliche Zulassung (§ 21 Abs. 2 AMG) und deren Ausführungen zu Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines Arzneimittels an. Das BSG habe im Urteil vom 19. März 2002 (-B 1 KR 37/00 R-) klare Kriterien festgelegt, die einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV gestatteten. Diese Kriterien seien vorliegend nicht als erfüllt anzusehen, da nicht erkennbar sei, ob vor der Behandlung alle zur Verfügung stehenden, zugelassenen therapeutischen Maßnahmen ausgeschöpft gewesen seien bzw. andere Therapieoptionen diskutiert oder in Erwägung gezogen worden seien. Die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheids lautete, dass die Klage zulässig sei.

Am 3. Dezember 2008 hat die Klägerin Klage erhoben, weil vorliegend die vom BSG im Urteil vom 19. März 2002 aufgestellten Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitende Verordnung von CellCept® zu Lasten der Beigeladenen zu 2) erfüllt seien.

Auf Hinweis der ...

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