Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Kosten für Schulbücher. kein persönlicher Schulbedarf. Regelbedarfsanteil übersteigende Kosten. analoge Anwendung des Mehrbedarfs bei einem unabweisbaren laufenden besonderen Bedarf. verfassungskonforme Auslegung. Konflikte bei der Finanzierung. Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Kultushoheit der Länder
Leitsatz (amtlich)
1. Der SGB II Leistungsträger hat die Kosten für nicht ausleihbare Schulbücher nach § 21 Abs 6 SGB II in verfassungskonformer Auslegung zu tragen.
2. Konflikte zwischen Bund und Ländern hinsichtlich der Finanzierung der Schulbildung auch für Schüler, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, dürfen nicht auf dem Rücken der im SGB II-Leistungsbezug stehenden Schüler ausgetragen werden (vgl BSG vom 8.5.2019 - B 14 AS 6/18 R und B 14 AS 13/18 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 31; entgegen BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 12/13 R = SozR 4-4200 § 28 Nr 8).
3. Der Bundesgesetzgeber hat in seiner Gesetzgebungskompetenz nach Art 74 Abs 1 Nr 7 GG (öffentliche Fürsorge) die Verantwortung zur Sicherstellung des gesamten menschenwürdigen Existenzminimums zu tragen. Diese Verantwortung ist über die der Kultushoheit der Länder einzuschätzen.
Tenor
Der Bescheid vom 10. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2018 (W 504/18) wird abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin weitere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Höhe von insgesamt 76,39 Euro zu zahlen.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II).
Die 2003 geborene Klägerin lebt mit ihrer unter Betreuung stehende Mutter gemeinsam in der Gemeinde M ... Sie beziehen als Bedarfsgemeinschaft fortlaufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Mutter der Klägerin erhält Leistungen zur Eingliederung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.
Die Klägerin ist Schülerin am W.-R. Gymnasium in B ... Dort besuchte sie die 9. Klasse. Hierfür benötigte sie Schulbücher. Laut einer Schulbuchliste der Schule waren einige Bücher weder als Leih- noch als Schulexemplar zu nutzen. Diese Kaufexemplare beliefen sich auf insgesamt 76,39 Euro. Folgende Bücher waren von der Klägerin selbständig im Handel zu bestellen:
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Duden |
26,00 Euro, |
Englisch, Workbook, Band 5, |
8,75 Euro, |
Geografie, Arbeitsheft, Klasse 9 |
3,95 Euro, |
Französisch, Grammatisches Beiheft |
7,95 Euro, |
Französisch, Cahier d’activités |
9,75 Euro, |
Französisch, Wörterbuch |
19,99 Euro. |
Mit Bescheid vom 25. Oktober 2017 gewährte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. November 2017 bis zum 31. Oktober 2018. Zusätzlich gewährte der Beklagte der Klägerin einen persönlichen Schulbedarf für den Monat August 2017 in Höhe von 70,00 Euro. Der Beklagte hatte für den Monat Februar 2017 bereits einen Betrag in Höhe von 30,00 Euro gewährt.
Unter dem 13. Juni 2018 beantragte die Betreuerin der Mutter per E-Mail die Übernahme der Schulbuchkosten für die Klägerin.
Mit "Schreiben" vom 14. Juni 2018 teilte der Beklagte der Betreuerin der Mutter der Klägerin mit, es müsse kein gesonderter Antrag auf Übernahme der Schulbuchkosten gestellt werden. Der Beklagte habe bereits mit Bescheid vom 25. Oktober 2017 über die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf entschieden.
Mit Schreiben vom 3. Juli 2018 beantragte die Betreuerin der Mutter die Übernahme der Schulbuchkosten für die Klägerin. Aus dem Regelbedarf könnten die Kosten nicht bestritten werden, da der Regelsatz hierfür nur drei Euro monatlich vorsehe.
Der Beklagte lehnte den Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfs (Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Schulbüchern) mit Bescheid vom 10. Juli 2018 ab. Er habe der Klägerin bereits Leistungen für die Beschaffung von Schulbedarf gewährt. Weitere Schulmaterialen seien aus den Leistungen für den Regelbedarf zu finanzieren. Ein Mehrbedarf liege nicht vor.
Den dagegen erhobenen Widerspruch vom 23. Juli 2018 begründete die Klägerin dahingehend, dass die Kosten für die Schulbücher kein unabweisbarer Bedarf seien. Bereits das Bundesverfassungsgericht habe im Jahr 2010 entschieden, dass die notwendigen Ausgaben zur Erfüllung schulischer Pflichten zum existenziellen Bedarf von Kindern und Jugendlichen gehöre.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2018 zurück. Die Schulbücher seien aus dem Regelbedarf zu finanzieren. Dabei wären die Kosten bereits nach drei Monaten bei einer Rücklage von 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs gedeckt. Der Regelbedarf sei eine Pauschale, die die Selbstverantwortung der Leistungsbezieher stärken solle. Eine darlehensweise Gewährung komme nicht in Betracht, da der Bedarf nicht unabweisbar sei. Es liege weder ein einmaliger noch ein Mehrbedarf vor. Die Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachse...