Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgrenzung der Zuständigkeit des Leistungsträgers zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe bei einem behinderten Kind bzw. Jugendlichen. Kostenerstattung

 

Orientierungssatz

1. Der Umfang des nachrangig zu Sozialleistungen verpflichteten Leistungsträgers zur Erstattung gegenüber dem vorrangig leistenden Träger richtet sich gemäß § 104 Abs. 2 SGB 10 nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften.

2. Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Jugendhilfe richtet sich nach § 10 Abs. 4 S. 2 SGB 8. Grundsätzlich gehen danach Leistungen nach dem SGB 8 vor. § 10 Abs. 4 S. 2 SGB 8 bestimmt jedoch eine Rück-Ausnahme. Danach gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB 12 für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen nach dem 8. Buch vor.

3. Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen der Jugendhilfe für seelisch behinderte Kinder oder Jugendliche und Eingliederungshilfe für geistig behinderte Kinder oder Jugendliche ist nach § 10 Abs. 4 SGB 8 im Einzelfall, ob der Hilfeempfänger auch geistig behindert ist. Bei rein seelisch behinderten Jugendlichen richtet sich die Zuständigkeit nach der Jugendhilfe. Bei Vorliegen (auch) einer geistigen oder körperlichen Behinderung richtet sich die Zuständigkeit dagegen nach dem SGB 12.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 26.10.2017; Aktenzeichen B 8 SO 12/16 R)

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die in Sachen Q M im Zeitraum vom 01.04.2010 bis zum 28.02.2010 entstandenen Aufwendungen in Höhe von 94.255,40 Euro nebst 4% über dem Basiszinssatz seit dem 12.05.2011 zu erstatten.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um eine Kostenerstattung an den nachrangig verpflichteten Leistungsträger unter dem Aspekt, ob der geistig behinderte Q M sich in einer teilstationären Einrichtung befindet oder ambulant betreut wird.

Der am 00.00.1993 geborene Q M lebte zunächst bei seiner Mutter I M in M1. Seit 1996 wird für ihn stationäre Hilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz erbracht. Seit 1999 war er in verschiedenen Einrichtungen (Heimen) untergebracht. Aufgrund massiver Auffälligkeiten im sexuellen Bereich, insbesondere durch selbst- und fremdgefährdendes Verhalten haben alle Einrichtungen jeweils nach einiger Zeit eine Betreuung abgelehnt. Seit April 2009 wird er durch die Einrichtung Quo Vadis in einem sogenannten ausgelagerten Heimplatz bei einem Betreuungsschlüssel 1:1 rund um die Uhr betreut. Zuvor hatten ca. 50 etablierte Einrichtungen der Jugendhilfe eine Aufnahme abgelehnt. Auch der Beklagte konnte keinen Heimplatz anbieten.

Am 09.02.2010 wurde Q M in der Uni-Klinik F untersucht. Ausweislich des Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. I von der Uni-Klinik F, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters vom 11.03.2010 leidet Q M an einer geistigen Behinderung vom Ausmaß einer leichten bis mittelgradigen Intelligenzminderung. Diese geistige Behinderung wird begleitet von deutlichen Verhaltensauffälligkeiten (ICD-10: F70.1) sowie einer vordiagnostizierten emotionalen Störung mit sexueller Enthemmung (ICD-10: F93.8). In seinen alltagspraktischen Fähigkeiten und seiner Anpassungsfähigkeit ist er erheblich eingeschränkt und somit auf intensive Betreuung und Unterstützung angewiesen. Ihm wird aufgrund seiner geistigen Behinderung eine eigenständige Lebensführung nicht möglich sein. Er ist aufgrund der beschriebenen Einschränkungen auf einen geschützten Lebensraum in einer engmaschig betreuten Wohnform oder einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen angewiesen. Zu berücksichtigen sind hier auch die Auffälligkeiten im Sexualverhalten, die eine intensive Betreuung erforderlich machen, um eine drohende Eigen- und evtl. auch Fremdgefährdung zu vermeiden. Der Intelligenzquotient des Probanden liege bei etwa 48-58.

Mit Schreiben vom 17.12.2009 meldete die Klägerin einen Erstattungsanspruch bei dem Beklagten an, da dieser für die stationäre Betreuung geistig behinderter Menschen zuständig sei. Der Beklagte lehnte seine sachliche Zuständigkeit ab. Q M sei von Quo Vadis bei der Familie J in W untergebracht worden. Er sei also ambulant untergebracht. Ab Dezember 2010 sei er dann in einer Einrichtung in Sachsen untergebracht worden. Da er jedoch zuvor in W im Rheinland einen Wohnsitz begründet habe, sei der Beklagte als überörtliche Träger für Westfalen nicht mehr zuständig.

Mit der am 09.05.2011 zunächst vor dem Sozialgericht Münster erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Anliegen mit der allgemeinen Leistungsklage weiter. Sie listet die einzelnen monatlich entstandenen Kosten gegenüber der Einrichtung Quo Vadis auf und legt dar, es handle sich um eine stationäre Maßnahme der Eingliederung nach dem SGB XII.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, ihr die in Sachen Q M im Zeitraum vom 01.04.2010 bis zum 28.02.2011 entstandenen Aufwendungen in Höhe von 9...

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